MEDIA Lab: Neue Studie zur Pressefreiheit
Mit den Enthüllungen Edward Snowdens hat sich die Welt der Demokratien mehr verfinstert, als dies Putin oder Erdogan je vermocht hätten
Was haben in den letzten Jahren nicht Internetgurus, aber auch ernst zu nehmende Wissenschaftler alles über das Demokratisierungspotenzial von Web 2.0 fabuliert. Der alarmierende Befund, mit dem jetzt zwei amerikanische Forscher, Karin Deutsch Karlekar und Lee B. Becker, aufwarten, sieht ganz anders aus: Sie konstatieren an vielen Ecken der Welt sowohl bei der Presse- und Meinungsfreiheit als auch bei der Versammlungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit signifikante Rückschritte – und zwar nicht nur dort, wo autoritäre Regime (in der Türkei, in Russland, in Ungarn oder der Ukraine) solche elementaren bürgerlichen Freiheiten gezielt abgewürgt haben, sondern auch in „seit langem etablierten Demokratien“ namentlich in Westeuropa.
Die Studie der Forscher basiert auf einem Langzeitvergleich von Daten, die Freedom House, eine amerikanische Non-Profit-Organisation, seit Anfang der 80er Jahre weltweit erhebt – wobei diese Organisation, anders als „Reporter ohne Grenzen“ in Europa, nicht nur der Entwicklung der Pressefreiheit nachspürt, sondern sich auch um die anderen elementaren bürgerlichen Freiheitsrechte kümmert. Der Datenabgleich zeigt, dass Demokratie und Pressefreiheit eng miteinander korrelieren: Erstere ist ohne letztere nicht zu haben. Wenn Letztere bedroht ist, ist die Demokratie akut gefährdet.
So sorgfältig sich Organisationen wie Freedom House bemühen mögen, ihre Daten weltweit zu erheben, so problematisch bleibt der Vergleich über Kulturgrenzen hinweg – weshalb eine Forschungsarbeit wie die von Karlekar und Becker, die erstmals langfristige Schlussfolgerungen aus vorhandenen Datensätzen zieht, mit Vorsicht zu genießen ist. Hinzu kommt, dass derzeit keine wissenschaftliche Studie ermessen kann, welche dramatischen Folgen für die Presse- und Meinungsfreiheit es hat, dass wir alle von der NSA und ihren verbündeten Geheimdiensten ausgehorcht werden. Mit den Enthüllungen Edward Snowdens hat sich die Welt der Demokratien mehr verfinstert, als dies Putin und Erdogan, die iranischen Mullahs und andere finstere Autokraten selbst bei gemeinsamen Anstrengungen je vermocht hätten.
Stephan Russ-Mohl