Konsterniert waren zuerst die Redakteure für Politisches: Lyrik? So etwas passe einfach nicht in ihre Sendungen. Amüsiert gab sich dagegen die Wirtschaftsredaktion: Soll’s denn im Anschluss an den Börsenbericht etwa ein Zahlengedicht von Kurt Schwitters sein? Die Literaturredaktion wiederum fühlte ihre eigenen Fischgründe verletzt: Für das Gedicht, diese fragilste aller literarischen Gattungen, habe man doch bereits eigene Formen – etwa das Autorengespräch, die Lesung oder die Zitate in einer Buchbesprechung. Damit sei Lyrik doch an die Hörer zu bringen.
Aber der Initiator der Idee, Deutschlandradio-Programmdirektor Günter Müchler, hatte schließlich doch nicht allzu viel Mühe, mit Unterstützung von Matthias Sträßner, dem Kulturchefredakteur, alle Ressorts von der Originalität seines Ansinnens zu überzeugen: Schließlich ist der Deutschlandfunk ein wort- und sprachbetonter Radiosender, und da sei auch Lyrik eine Option – und das gerade nicht im Rahmen der üblichen Kultursendungen, wenn es denn nicht ein akustisches Poesie-Album werden solle.
So ist nun der „Lyrik-Kalender“ im täglichen Programm. Tag für Tag ein anderes Gedicht, dreimal verlesen auf täglich wechselnden Sendeplätzen, ob in den „Informationen am Morgen“ oder der „Wirtschaft am Mittag“ oder in „Umwelt und Verbraucher“ … Nie habe aber der Verdacht aufkommen sollen, hier werde eine lyrische Losung des Tages ausgegeben. Auf das Gedicht ist eben kein Verlass. Nur unvorhersehbar kann es seine Kraft entfalten. Heute das „Hungerlied“ aus dem Vormärz von Georg Weerth, morgen das „Glück“ von Günter Grass, dann ein „Gebet“ von Eduard Mörike, später auch einmal Elisabeth Borchers’ „Vom Eindringen des Imperfekts in die Grammatik des heutigen Tages“.
Angenehm ist da der Verzicht auf Didaktisches: keine An- und keine Abmoderation, keine Jahreszahl von der Entstehung der Gedichte, kein biografisches Faktum von seinen Autoren, nur ein Titel, ein Name und dann die wenigen Textzeilen des Gedichts. Einen Tag gibt ihm Martin Reinke seine Stimme, tags darauf liest Anja Laïs, beide Ensemblemitglieder am Schauspielhaus Köln, und so wird es fortgehen im Wechsel bis ans Ende des Jahres. Wer dennoch Näheres über die gehörten Mehrzeiler erfahren will, ist auf die Webseite des Senders verwiesen.
Sicherlich ist alles nur ein Anfang: Die Auswahl der Gedichte – Michael Braun trifft sie – reicht vom Hochmittelalter und der frühen Neuzeit über das Barock, von der Romantik und anonymen Kinderreimen bis in die Moderne und Gegenwart. Durchaus Seltenes und wenig Bekanntes ist aufgenommen (selbst Germanisten werden so manches Mal zum Literaturlexikon greifen), aber vielleicht fehlt es ein wenig am Abseitigen und am Experiment. Die größte Eingrenzung ist wohl die Vorgabe des Umfangs: Nicht mehr als 15 Zeilen, oder weniger als eine Minute, dieses Richtmaß durfte nicht überschritten werden. Da ist dann der Moment der „Entschleunigung“, den Müchler mit den lyrischen Einsprengseln erreichen wollte – Entschleunigung des alltäglichen Reigens von Nachrichten, Interviews und Kommentaren. Allemal ist es ein kleiner Umsturz radiophoner Gewohnheit. Der Deutschlandfunk, einer der informationsbetontesten Sender in Deutschland, emanzipiert sich vom Nachrichtenwesen.
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