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Die Leningrad-Sinfonie.
© Arte

Arte-Doku über Leningrad-Blockade: Mit Dur und Moll gegen Pulver und Blei

Eine Dokumentation auf Arte erinnert an die Aufführung von Schostakowitschs Siebter Symphonie im besetzten Leningrad - eine beispiellose Geschichte, wie geschaffen für die filmische Bearbeitung.

Im Winter 1941/42 zeigte der deutsche Vernichtungskrieg eines seiner wohl hässlichsten Gesichter. Hitlers Wehrmacht hatte Leningrad, das heutige Sankt Petersburg, eingekesselt. Pro Tag starben dort 8000 Menschen an Hunger und Entbehrung. Doch die Russen schlugen zurück – mit einer musikalischen Geheimwaffe. Eine Arte-Dokumentation zeichnet die unglaubliche Geschichte der Aufführung von Dmitri Schostakowitschs Siebter Symphonie nach.

Christian Frey und Carsten Gutschmidt, profilierte Autoren historischer Rekonstruktionen, beleuchten die Begegnung zwischen Krieg und Musik aus unterschiedlichen Perspektiven. Unteroffizier Wolfgang Buff, der mit seinem Rechnentrupp die Zielkoordinaten für die Geschütze bestimmen muss, beschreibt in seinen Tagebuchaufzeichnungen den mit deutscher Gründlichkeit geplanten Feldzug. Russische Zeitzeugen erinnern unterdessen an die Situation in der belagerten Metropole.

Drei Millionen Menschen, von denen eine Million starben, waren knapp zwei Jahre lang von der Außenwelt isoliert. Unter ihnen befand sich auch Dmitri Schostakowitsch. Der weltberühmte Komponist ist bei den Kommunisten in Ungnade gefallen und muss als Feuerwehrmann arbeiten. Überraschend wird das musikalische Wunderkind ins 1700 Kilometer entfernte Kuibyschew gebracht, wo die Sowjets ihren Staatsapparat hinverlegt hatten. Stalin erteilt ihm den Auftrag, eine „Hymne gegen den Faschismus“ zu komponieren.

Als die fertige Partitur dann im Juli 1942 in die belagerte Stadt eingeflogen wurde, war sie gewiss nicht das, was die Menschen dort benötigten. Sie litten unvorstellbaren Hunger. Leningrader aßen, was sie kriegen konnten, sogar ihre Katzen und den Klebstoff aus Buchdeckeln. Kaum jemand hatte noch die Kraft, verstorbene Angehörige ins Leichenschauhaus zu bringen. Dokumentarische Aufnahmen zeigen, wie die Toten den Bürgersteig säumen.

In dieser aussichtslosen Situation gelingt dem Dirigenten Karl Eliasberg ein Wunder. Die meisten seiner Profis waren verhungert oder erfroren – also ergänzt er sein Orchester mit Laien und Militärmusikern. Als er Schostakowitschs „Leningrad Symphonie“ dann am 9. August 1942 tatsächlich aufführt, dringt die Musik über Radio und Lautsprecher bis hin zu den deutschen Truppen, deren Moral geschwächt wird. Es gelingt ihnen nicht, die Stadt einzunehmen.

Dur und Moll gegen Pulver und Blei – diese beispiellose Geschichte ist wie geschaffen für eine filmische Bearbeitung. Auf melodramatische Effekte verzichtet die Dokumentation glücklicherweise. Differenziert und ausgewogen wird nachgezeichnet, mit welch durchdachtem Kalkül die Sowjets ihre Propagandaschlacht führten.

In Radiobotschaften mussten deutsche Kriegsgefangene ihren Kameraden vorflunkern, wie gut es ihnen bei den Russen ergeht: tatsächlich haben nur wenige von ihnen überlebt. Die grauenhafte Fratze des Krieges wird mit ausgiebigem Reenactment visualisiert. In Erinnerung bleibt eine Szene, in welcher der Dirigent verzweifelt nach seinem ausgemergelten Trommler sucht, der im Keller des Krankenhauses zwischen Leichenbergen auf den Tod wartet.

Obwohl die martialischen Kampfszenen gelegentlich überzogen wirken, vermag die Mischung aus historischem Rückblick und zeitgemäßem Infotainment zu überzeugen. Emotionaler Höhepunkt ist die feierliche Aufführung der Symphonie in der voll besetzten Leningrader Philharmonie. Ein paar mehr Informationen über die Musik selbst hätten der sehenswerten Dokumentation allerdings nicht geschadet.

Manfred Riepe

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