ARD-Film "Toter Winkel": Mein Sohn, ein Terrorist?
Das ARD-Familiendrama „Toter Winkel“ variiert das Thema der NSU-Morde. Eine wichtige Frage: Was wissen wir eigentlich von unseren Kindern?
Wie gut kennen wir eigentlich unsere Kinder? Was wissen wir wirklich von deren politischen Überzeugungen? Ist es nicht äußerst naiv, anzunehmen, dass man die eigenen Werte an die nächste Generation unverändert weitergeben kann? Oder anders gefragt: Inwieweit können Eltern für das Handeln ihrer Kinder verantwortlich sein, welche Schuld tragen sie, wenn sich herausstellt, dass der Nachwuchs Mitglied einer rechten, möglicherweise sogar terroristischen Gruppe geworden ist? Im ARD-Film „Toter Winkel“ stellen sich solche Fragen nicht nur abstrakt, sondern ganz konkret.
Eine Familie wird aus dem Schlaf gerissen, die Polizei und Mitarbeiter der Ausländerbehörde stehen vor der Tür der ehemals aus dem Kosovo stammenden Eltern, die inzwischen seit 17 Jahren in Deutschland leben. Ihre Duldung sei aufgehoben, sie und ihre Kinder würden nun abgeschoben, dürften noch schnell einige Habseligkeiten zusammenpacken. Die älteste Tochter nutzt die erste sich bietende Gelegenheit zur Flucht. Beim Überqueren einer Straße wird einer der Verfolger von einem Lkw erfasst und getötet.
Szenenwechsel. Was Friseurmeister Karl Holzer (Herbert Knaup) erlebt, wirkt zunächst wie eine andere Geschichte, in der ein junger Mann bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt. Doch warum hatte Manuel Retzlav (Konstantin Lindhorst) die Waffe eines getöteten Polizisten bei sich? Und was weiß Holzers Sohn Thomas (Hanno Koffler) von den möglichen Verstrickungen seines Freundes mit der rechtsextremen Szene? Und warum sagt Thomas, er habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Freund?
"Lindenstraßen"-Erfinder Geißendörfer hatte die Idee
Die Idee zu „Toter Winkel“ stammt von Produzent Hans W. Geißendörfer – dem Erfinder der „Lindenstraße“ – und Drehbuchautor Ben Braeunlich. Für sie war es naheliegend, einen Film zum Thema Rechtsextremismus beziehungsweise zum wieder aufkommenden Faschismus zu machen.
Herausgekommen ist ein Vater-Sohn-Drama, angesiedelt in einem scheinbar heilen Umfeld; der Vater ein bürgerlicher Vertreter der 68er-Generation, der Sohn ein Neonazi, zunächst heimlich, später ganz offen. „Das Erschrecken über die Haltung und rechtsradikale Überzeugung des Sohnes ist das Erschrecken meiner Generation über die Tatsache, dass Faschismus und rechtsradikale Werte in der heutigen Jugend nicht nur diskutiert, sondern auch von vielen gelebt und in Taten umgesetzt werden. Ich hoffe, ,Toter Winkel‘ trifft“, schreibt Geißendörfer zu dieser Produktion, die im Auftrag des WDR entstand.
Welches Schreckensszenario sich in der ansonsten keineswegs bedrückenden kleinstädtischen Atmosphäre abspielt, kann der Zuschauer lange Zeit nur erahnen. Der Blick auf die Verbrechen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds zeigt indes, dass keineswegs die Fantasie mit den Machern durchgegangen ist. Autor Braeunlich hatte sich bei seinen Recherchen unter anderem ein Interview der Eltern von Uwe Böhnhardt angesehen. „Ein Ausschnitt ist mir besonders in Erinnerung geblieben, in dem die Mutter von der letzten Begegnung mit ihrem Sohn erzählt, als er bereits in den Untergrund gegangen war. Sie erzählt davon, wie sie ihn in die Arme nahm, ohne zu wissen, dass er zu diesem Zeitpunkt schon sechs Menschen das Leben genommen hat.“
Bewegende Umsetzung des Stoffes
Regisseur Stephan Lacant wollte die Geschichte so authentisch wie möglich erzählen. Die TV-Dokumentation „Abschiebung im Morgengrauen“ hatte ihn da schon lange beschäftigt. „Ich war fassungslos, als ich sah, dass man als Migrant ohne Bleiberecht auf einmal mitten in der Nacht 20 Kilo seines Lebens in eine Tasche packen muss und zum Flughafen gebracht wird, um in ein Land abgeschoben zu werden, das für viele Migranten längst keine Heimat mehr ist.“
Die Umsetzung des Stoffes ist bewegend: Herbert Knaup braucht als Vater Holzer keine Worte, um die inneren Kämpfe seiner Figur auszudrücken. In feinsten Abstufungen gelingt es ihm, sämtliche Gefühlszustände vom leichten Zweifel über die jähe Erkenntnis bis zum explosionsartigen Ausbruch der Emotionen abzurufen. An körperlicher Präsenz mangelt es auch Hanno Koffler nicht. Doch in der Darstellung von Thomas’ Emotionen fällt er weit hinter Knaup zurück. Bis zuletzt hält er die Fassade des guten Sohnes aufrecht. Der Film bleibt aber auch bei den Opfern. Die junge Schauspielerin Emma Drogunova zeigt als Anyá Krasniqi auf der Flucht ihre Angst, Verzweiflung, Hilflosigkeit, aber auch ihre Entschlossenheit.
„Toter Winkel“, Mittwoch, 20 Uhr 15, ARD