"Zeit"-Chefredakteur: Maßlose Medien
Giovanni di Lorenzo kritisiert zu schnelle Urteile über Gut und Böse und entschuldigt sich erneut für seine zweifache Stimmabgabe bei der Europawahl.
Der Chefredakteur der "Zeit“, Giovanni di Lorenzo, hat seine Berufskollegen zu mehr Verhältnismäßigkeit in der Berichterstattung aufgerufen. „Wir neigen dazu, jedes Maß zu verlieren“, sagte der Journalist. Spitzenpolitiker müssten dabei oft mehr Kritik einstecken als jede andere Berufsgruppe. Mit Blick auf den zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff sagte di Lorenzo: „Was viele Medien abgeliefert haben, war beschämend.“ Er habe Mitleid mit Wulff. Diese Fälle führten dazu, dass immer weniger Menschen bereit seien, „sich für eine Abgeordneten-Diät ans Kreuz nageln zu lassen“. Der Aufruf zu mehr Verhältnismäßigkeit sei „kein Plädoyer für Samthandschuhe“, betonte di Lorenzo. „Jeder Journalist sollte selbst entscheiden, wann das Maß voll ist.“ Dabei dürfe kritisches Denken nicht zur Marotte verkommen. Das schnelle Urteilen über Gut und Böse sei oft viel zu einfach. Eine Aufgabe für die Medien könnte in Zukunft sein, „empathischer und verständnisvoller auf die Menschen zu blicken“.
Di Lorenzo entschuldigte sich erneut für seine zweifache Stimmabgabe bei der Europawahl. Er habe sich arglos und in aller Öffentlichkeit zu den Stimmabgaben bekannt. Nach dem Europawahlgesetz dürfen Doppelstaatler nur in einem EU-Land ihre Stimme abgeben. Für di Lorenzo sagt es viel über Medien aus, wenn diese Geschichte öfter im Internet aufgerufen werde als Ergebnisse der Wahl. Der Journalist hatte bei „Günther Jauch“ über sein Wahlverhalten berichtet. Aufgrund zweier Staatsbürgerschaften habe er eine italienische und eine deutsche Wahlaufforderung bekommen und sei beiden nachgekommen. Jauch nahm den „Zeit“-Chef in Schutz. Er kenne di Lorenzo „seit über 30 Jahren als ebenso aufrechten Journalisten wie aufrichtigen Menschen“. Er frage sich, ob „wir die Maßstäbe für Schuld oder Unschuld, für Vorsatz oder Fahrlässigkeit, für Wichtiges oder vergleichsweise Nichtiges völlig verloren“ haben, schrieb Jauch in der „Bild“-Zeitung. epd/jbh