"Berliner Runde": Martin Schulz gibt den Gerhard Schröder
Die "Berliner Runde" war eine Trainingsstunde für den künftigen Bundestag. Und bei "Anne Will" verschärften sich die Konflikte mit der AfD.
Sieben Parteien im Bundestag, erstmals seit den 1950er Jahren wieder Rechtsextreme im deutschen Parlament, die Regierungskoalition offen. Die „Berliner Runde“ – was für ein „Tatort“- Ersatz. Großer oder kleiner Politthriller, nur das war die Frage. Erste Überraschung in der Diskussion der Parteivorsitzenden und Spitzenkandidaten war, dass SPD-Chef Martin Schulz Bundeskanzlerin Angela Merkel so heftig attackierte, als wollte er den Wüterich Gerhard Schröder in der „Elefantenrunde“ 2005 nicht nur imitieren, sondern überholen.
Schulz übte Frontalopposition, wo seine eigene Partei noch in der großen Koalition arbeitet. Merkel nannte die Schulz-Einlassungen ein „starkes Stück“. Der SPD-Chef, einmal in Rage, ging zudem auf ARD und ZDF los, als er an die aus seiner Sicht „öffentlich-rechtlichen Lektionen“ an seine Adresse im Fernseh-Wahlkampf erinnerte. CSU-Spitzenmann Joachim Herrmann haute in die gleiche Kerbe, als er den Öffentlich- Rechtlichen vorwarf, sie hätten die AfD „groß gemacht“.
Die Diskussionsleiter, ARD-Chefredakteur Rainald Becker und sein ZDF-Kollege Peter Frey, ließen sich davon nicht beeindrucken. Sie kamen aus dem anfänglichen Frage-und-Antwort-Spiel schnell heraus, um die Wirkungen und Nebenwirkungen der Ergebnisse mit der Runde gezielt zu diskutieren.
Die Senderegie war gut beraten, Aussagen von Katrin Eckart-Göring (Bündnis 90/Die Grünen) und Christian Lindner (FDP) mit der Mimik der Kanzlerin zu kontrastieren. Es schien, als würde Merkel mit den Liberalen relativ leicht und schnell klarkommen. Apropos Kamera: Zuweilen kam der Eindruck auf, als finde die „Berliner Runde“ auf einem schwankenden Schiff statt, so sehr wankte die Bildachse.
Zweierlei Opposition
Einen Punkt machte Herrmann schon: Sind die Medien gut beraten, alles, was passiert und geschieht, an der AfD zu spiegeln? AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen fuhr dann doch, wie in der „Berliner Runde“, den richtigen Kurs, wenn er öfter schwieg statt jede Attacke zu kontern. Die AfD hat überhaupt kein Recht, sich als Opfer zu sehen, in dieser vom politischen Gegner und von der journalistischen Mehrheit eingenommenen Kommunikationsperspektive werden sich Funktionäre und Wähler unverändert in ihrer Opferrolle gestärkt sehen. Katja Kipping von der Linkspartei hatte, wie fast alle in der Runde, Schwierigkeiten, sich aus dem Wahlkampfmodus zu lösen. Allerdings, und da wird die Zukunft interessant, werden sich die Linke und ihre Frontfrau in zweierlei Opposition üben müssen: Opposition gegen die Regierung, Opposition gegen die AfD. Deren Vertreter Jörg Meuthen setzte ein paar schrille Slogans ab.
Die „Berliner Runde“ gab eine erste Vorstellung davon ab, dass es im neuen Bundestag mit sieben Parteien deutlich lauter, ja schroffer zugehen wird. Der kommende Parlamentspräsident wird Arbeit bekommen, ordentlich Zwischenrufe zählen und die Geschäftsordnung einfordern. Die Debatte wurde über die 60 Minuten Trainings- und Übungsplatz für die künftigen Auseinandersetzungen im Bundestag.
Die AfD mit Zitaten klein machen?
Die Talkrunde „Anne Will“ bildete nahezu identisch die „Berliner Runde“ ab, es fehlten nur CSU- und Linken-Vertreter, dafür hatte „Stern“-Publizist Hans-Ulrich Jörges Platz genommen. AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland schwieg nahezu die Hälfte der Sendezeit. Er sah offenbar keine Veranlassung zur Wortmeldung. Wiederum schienen Politik und Publizistik zu glauben, sie könnten mit allerdings widerwärtigen AfD-Zitaten diese Partei kleiner machen. Hier müssen alle Demokraten umdenken: Nur die eigene Politik wird den Rechtsextremen den Boden unter den Füßen wegziehen. So wurde bekannt, dass die AfD kein Rentenkonzept hat. Ansonsten war der Ton noch schärfer als in der „Berliner Runde“. Der „Erdrutsch“ des Wahlausgang wird auch die Kommunikation bestimmen. Es wird gerade in den Talkshows darauf ankommen, dass die Moderatoren wie Anne Will selbstbewusst und im Sinne der Zuschauer das Gespräch leiten. Der erkennbaren Politikerattitüde, zu denunzieren statt zu differenzieren, muss mit Intelligenz und Konsequenz begegnet werden. Aber auch das galt an diesem bemerkenswerten Wahlabend: In der „Berliner Runde“, bei "Anne Will" wie in der gesamten Wahlberichterstattung seit 18 Uhr hat das öffentlich-rechtliche wie das private Fernsehen von ARD über RTL bis ZDF gezeigt, was Live-Fernsehen sein kann: aufregend und authentisch. Prognosen, Hochrechnungen, Live-Schalten, Journalisten, Reporter, Moderatoren, flächendeckend wurde berichtet, ein Medium wies nach, wofür es erfunden worden war. Wie ein gelungener „Tatort“ eben.
Joachim Huber