Gottesmann bei den Atheisten: Martin Luther King in Ost-Berlin
RTL-History: Berliner Schüler dokumentieren den Besuch des Bürgerrechtlers im September 1964.
Dieses Tonband ist für Georg Meusel aus dem sächsischen Werdau ein besonderer Schatz. Als er es den Gästen aus Berlin präsentiert, ringt er um Fassung. Das Band dokumentiert eine Rede von Martin Luther King am 13. September 1964 in der Marienkirche am Alexanderplatz. Filmaufnahmen gibt es von Kings Kurzbesuch in Ost-Berlin nicht, nur dieses Tonband. „Hier sind, von beiden Seiten der Mauer, Gottes Kinder. Und keine durch Menschenhand gemachte Grenze kann diese Tatsache auslöschen“, sagt der Bürgerrechtler aus den USA, dem wenig später der Friedensnobelpreis verliehen wird. Die Marienkirche war überfüllt, spontan wurde noch ein zweiter Gottesdienst in der Sophienkirche organisiert.
Meusel hatte das Tonband von der Kirchengemeinde für das Martin-Luther-King-Zentrum in Werdau erhalten. Nun sind bei ihm Berliner Schüler zu Gast, die die O-Töne für das gemeinsame Multimediaprojekt „King-Code“ zweier Schulen in den Berliner Stadtteilen Wedding und Pankow nutzen wollen. Der Filmemacher Andreas Kuno Richter dokumentiert, wie die Schüler Zeitzeugen treffen, Originalschauplätze von Kings Besuch in West- und Ost-Berlin aufsuchen. Unübersehbar geht es nicht nur um die Vergangenheit, sondern um Toleranz, ein friedvolles Miteinander heute. Die Schülerschar ist bunt gemixt: Weiße, Schwarze, Christen, Muslime. Ein Mädchen mit Kopftuch drückt in der Marienkirche feierlich auf den Knopf des Tonbands, das die vor fast 50 Jahren gehaltene Rede abspielt. Leider ist Martin Luther King im Film wegen der über den O-Ton gesprochenen Übersetzung nur eingeschränkt zu hören. Nicht einmal wenn ein historischer „Gänsehaut“-Moment zelebriert wird, traut man sich, dem Publikum Untertitel zuzumuten.
Und wieso überhaupt RTL? Schirmherr des Projekts ist Chefredakteur Peter Kloeppel, der deshalb auch immer mal wieder, lässig an den Überresten der Berliner Mauer vorbeiflanierend, ein paar Überleitungen spricht. Das ist zwar dramaturgisch weitgehend überflüssig, ebenso wie das übertriebene Pathos im Off-Kommentar, man darf sich dennoch über den pädagogisch wertvollen Ausreißer im RTL-Programm freuen. Produziert wurde „Der King-Code“ von der Filmgesellschaft Eikon Nord, deren wichtigster Gesellschafter die evangelische Kirche ist.
Martin Luther Kings Besuch bietet einen hinreichend spannenden Stoff: Das Fluchtdrama um Michael Meyer zum Beispiel, der am selben Tag beinahe von DDR-Grenzern erschossen worden wäre. King änderte spontan sein Besuchsprogramm und eilte nach Kreuzberg. Oder die kuriosen Umstände von Kings Einreise nach Ost-Berlin am Checkpoint Charlie, die die US-Regierung verhindern wollte, indem sie Kings Reisepass einzog. Die Stasi hatte in den Kirchen natürlich auch einen Berichterstatter vor Ort. Die DDR-Oberen wollten King ihren Bürgern am liebsten als „Arbeiterführer“ verkaufen. Vor der Wende 1989 kursierten dann in den Kirchen westliche Dokumentarfilme über den 1968 erschossenen Prediger. Martin Luther King inspirierte offenbar viele Menschen in der DDR, 1964 sogar durch seine persönliche Anwesenheit. Die Bedeutung seines Besuchs für den Westen geht darüber im Film etwas unter.
„Der King-Code“, Sonntag, RTL, 23 Uhr 30