Piratenpartei: "Liquide Demokratie führt hoffentlich nicht zur Liquidierung der Demokratie"
Während Millionen Deutsche zwecks EM schon vor dem Fernseher saßen, diskutierte der Berliner Pirat Christoph Lauer mit zwei Politikwissenschaftlern über die Zukunft der Piraten. Das führte mehr als einmal zu Verwirrungen.
Die Fans gruppieren sich schon vor den Fernsehern der Kneipen und Restaurants, bald spielt Deutschland gegen die Niederlande, und das Institut für Medien- und Kommunikationspolitik veranstaltet eine Politdiskussion. Sie heißt „Unter Piraten – Erkundungen in einer neuen politischen Arena“. Ob jemand kommt? Und dann ist der Tagungsraum unterm Dach der Schwarzkopf-Stiftung in der Berliner Sophienstraße viel zu klein. Die Stühle stehen noch zur Tür hinaus, es zieht nachhaltig, genauso wie in der politischen Arena. Vielleicht interessieren sich die Piraten nicht für Fußball, schon weil er nicht im Netz erfunden wurde.
Auf dem Podium sitzen zwei Professoren und ein Pirat. Der Pirat ist bestimmt der Träger der türkisen Weste, an den Rändern dezent orange eingefasst. Wer sonst hätte den Mut zu einem solch wahrhaft innovativen Kleidungsstück? Er erläutert den Aufbau des soeben erschienenen ersten wissenschaftlichen Buches über das Phänomen der Piraten. „Unter Piraten“ ist so neu, dass das erste Exemplar noch eingeschweißt auf dem Tisch liegt. Der erste Teil heiße „Entern“ und behandele die Frage, warum sie plötzlich an Deck standen und wie sie da hinaufkamen. Der zweite Teil heiße „Ändern“ und untersuche, ob die Piraten außer dem Internet Themen haben. Der Referent erklärt, das Ergebnis gern schon einmal vorwegnehmen zu wollen: Ja! Der dritte Teil nun könnte „Kentern“ heißen, ein Titel, der zugunsten von „Neustart“ verworfen wurde.
Die Piratenpartei in Bildern
Inzwischen ist klar, dass der Träger der Piratenweste kein Pirat, sondern Professor ist, Professor Christoph Bieber von der NRW School of Governance. Auch Professoren sehen also nicht mehr aus wie Professoren und: Sie sprechen anders. Auf die viel gestellte Frage, ob die Piraten eine Partei der Zukunft seien, pflege er zu antworten: Nein, eine Partei der Gegenwart. Sein Nachbar auf dem Podium greift nun sein Glas fester, als wolle er sich daran festhalten. Das ist also der Pirat, Christopher Lauer, Innen- und Kulturpolitischer Sprecher der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus Berlin: weißes Hemd, schwarzer Anzug, rosa Halstuch. Wahrscheinlich versucht er, älter auszusehen, als er ist. Jeder andere Parteipolitiker wäre dem Referenten spätestens jetzt ins Wort gefallen, aber der Pirat begnügt sich mit einem elegischen Blick.
Die Piraten als Anwälte eines globalen Kommunismus
Der zweite Professor ist Claus Leggewie und stellt sich als Autor des skeptischen Nachworts vor. In seinem Gesicht breitet sich ein Behagen aus, wie es Akademikern manchmal geschieht, wenn sie Anlass haben, sich wirklich über ihren Forschungsgegenstand zu freuen. Wie adaptiv und aufnahmefähig, ja geradewegs innovativ ist doch das deutsche Parteiensystem! Mit der CDU, dieser Kreuzung aus einer Mentalität und einem Programm habe das begonnen, dann kamen die Grünen und nun die Piraten. Die Piraten als Beschleuniger, als Transparenzbeschaffer und als Anwälte eines globalen Kommunismus. Hat er da eben Kommunismus gesagt? Leggewie präzisiert „kostenlose Bildung, kostenloser Nahverkehr, kostenloser Internetzugang“ und nennt das „Schutz der globalen Kollektivgüter“. Lauer nickt. Was ihm bei ihnen noch fehlt, sei der Schutz der Erde. Lauer nickt immer noch.
Die Pannen der Piraten in Bildern
Er beginnt seine Antwort mit dem für einen Parteisprecher furiosen Satz: „Was soll ich dazu sagen?“ Und seltsam, es wirkt nicht inkompetent. Etwas später wird Lauer den schönen Begriff der „kognitiven Dissonanz“ zur Beschreibung der vorherrschenden Bewusstseinsform seiner Parteimitglieder einführen, und auch das klingt nicht nach Schwäche, nur nach Realismus. Nach diesem Kaltstart im letzten Herbst leben Lauer und die anderen in einer neuen Welt. Voller neuer Anknüpfungspunkte, nein, Anknüpfungserfordernisse, zu viele auf einmal selbst für einen Netzgeborenen des Jahrgangs 1984.
Die Piraten stehen für eine Revolution der Anknüpfungspunkte, konventionell auch politische Teilhabe genannt. Das Schlagwort lautet „liquid democracy“ oder „liquid feedback“. Leggewie erklärt, dass eigentlich er diesen Text hätte schreiben sollen, aber die Sache war ihm dann doch an bestimmten Punkten unklar. Dass man über einen Account über bestimmte Fragen abstimmen darf, bei gefühlter Inkompetenz seine Stimme auch delegieren kann, hält Leggewie für großartig, auch wenn Verflüssigungen ihre Unwägbarkeiten haben. Das frühere Apo-Mitglied hofft, dass die liquide Demokratie nicht zur Liquidierung der Demokratie führen möge. Und vor allem: Warum sind sie so still, was Facebook oder Google betrifft, „diese privatkommerziellen Konzerne, die das Internet vermachtet haben“? In Lauers Blick steht wieder eine kognitive Dissonanz, der Moderator Leonard Novy will mit Rücksicht auf den nahenden Anpfiff des Spiels statt eines Schlussworts Prognosen zum Ausgang. 1:1, sagt Leggewie. 2:1 für Deutschland, sagt Bieber. Wer spielt denn?, fragt Lauer.
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