Digitales Leben: Lieber online als alt sein
Längst sind die Jungen im Netz nicht mehr unter sich. Mehr als 50 Prozent der Senioren nutzen digitale Medien, werden mobiler und kommunikativer
Ganz ehrlich, wenn sie ihren Computer nicht hätten, würden diese Menschen viel weniger an die frische Luft kommen, so paradox das klingt. So aber treibt das Internet, oder besser: treiben ihre Schwierigkeiten mit dem digitalen Alltag 52 Mitglieder des Senioren-Computer-Clubs Mitte regelmäßig in einen umwehten grauen 21-Geschosser auf der Berliner Fischerinsel bei einer analogen Tasse Kaffee zusammen. Wie gut, dass es diese Probleme heute gibt!
So sitzen jetzt acht von ihnen an den Arbeitsplätzen im Erdgeschoss, einer hat seine Lupe mitgebracht, mit der er sich gerade den Bildschirm vergrößert. Das Gehirnjogging-Programm von „NeuroNation“, einem Berliner Start-up, kann er so gleich besser erkennen. Das Programm bietet Spiele, mit denen Sensorik, Logik und Rechnen trainiert werden. „Ein Riesenvorteil für ältere Menschen: Wenn ich nachts nicht schlafen kann, habe ich hiermit 20 Minuten Konzentration.“
Das sagt Günter Voß, der seehundschnäuzige Koordinator und Mitbegründer des Clubs. In seinem ersten Leben drehte er als Produktionsleiter in der DDR Dokumentarfilme, im vergangenen Jahr hat er für den Club den „Goldenen Internetpreis“ in Empfang genommen, der von Google mitverliehen wird. Für die Vermittlung von Internetkompetenz.
Allein das Geduze!
Voß hat in seinen sechs Jahren beim Club – Durchschnittsalter 73 Jahre – verschiedene Arten der Ermächtigung gesehen. Da ist die Frau, die heute selbstverständlich im Netz Karten für ihre Konzerte bestellt. Er half einer frischen Witwe, die an kein Bargeld kam, weil ihr Mann das Geld bei einer Online-Bank verwaltet, sie aber noch nie einen Computer benutzt hatte. Voß hat einem 87-Jährigen gezeigt, wie er mit seinem Neffen in den USA Kontakt hält. Und einem „Wetterfreak“, wie er überall auf der Welt verfolgen kann, wo die Sonne scheint, „auch, wenn er da selbst nicht hinfährt“.
Die Hälfte der Senioren, hieß es zuletzt, könne sich heute ein Leben ohne Internet nicht mehr vorstellen. Aber wie genau sie das Netz nutzen, ist vielen immer noch ein Rätsel. Günter Voß hat schnell gelernt, was die Älteren brauchen und dass das gar nicht so häufig mit dem übereinstimmt, was Firmen glauben, was Ältere wollen. Allein das Geduze! Günter Voß besaß einmal eine hervorragende Lern-Broschüre, die wenig kostete und die er für seinen Verein benutzen wollte. Es ging nicht, sagt Voß. Die Duzerei hat keiner ertragen. „Ältere Leute wollen respektiert werden.“ Jüngere machten sich keinen Begriff, dass deren Eintritt ins digitale Leben schon an der Anrede scheitern kann.
Was also taugen zum Beispiel die neuen Kochboxen? Sind Essenslieferungen nicht eine große Erleichterung für ältere Leute, denen das Tragen schwerfällt? Günter Voß winkt ab. Das Essen komme noch früh genug auf Rädern. Vorher gehe es im Gegenteil darum, so lange wie möglich noch am Leben draußen teilzunehmen, solange es geht, selber einzukaufen. Unter Leute zu kommen. Einkaufen ist auch eine soziale Interaktion, kontraproduktive Lieferungen fördern die Isolation.
Was also treibt seine Leute in den Club? Warum wollen sie ins Netz?
Ältere Menschen sind beleidigt von großer Schrift
Oft fange alles mit einer Digitalkamera an. „Denn was macht einer, der eine Kamera geschenkt bekommen hat, wenn der Chip voll ist? – Er muss sich einen Computer kaufen.“ Sonst könnte er die Bilder weder speichern noch verarbeiten oder verschicken. Und schon ist wieder jemand ins Netz gegangen und drin in der digitalen Welt. Und so haben sich die Foto-Gruppen zu den Rennern im Club entwickelt. Die Mitglieder unternehmen Exkursionen, lernen Photoshop und ihren Videos Kommentare zu unterlegen, „die besser klingen als die U-Bahn-Ansagen“.
Tatsächlich mache man sich keine Vorstellungen, wo das Leben von einem Tag auf den anderen digital werde. Es beginne weit vor dem ersten eigenen Computer bei jeglicher Mensch-Maschine-Kommunikation. Der erste Kontakt mit einem Touchscreen entstehe schon bei einem Fahrkartenautomaten der Deutschen Bahn, wenn einer bloß mit einem Brandenburg-Ticket ins Grüne fahren will. Der Umgang mit Smartphones müsse geübt werden und die Bedienung des neuen Fernsehers. Sogar mit Autos müsse man heute kommunizieren.
Und das Alter ist ja eine sensible Lebensphase. Wer dort eintritt, wird empfindlich. Viele ältere Menschen sind beleidigt von Produkten mit großer Schrift. Sie sind unangenehm berührt, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Defizite beworben werden: Du kannst nicht mehr gehen? Bestell’ dir doch Essen nach Hause. Du kannst nicht mehr reisen? Folge deinen Enkeln auf Facebook. Du kannst keine Hilfe mehr holen? Betätige den vernetzten Notknopf. Auf die Prothesen aus dem Internet reagieren viele mit Widerstand.
Wikipedia als Fitnesstrainer
Zugleich aber machen andere ihre eigenen Entdeckungen. Irgendwann, sagt Voß, stellte zum Beispiel Wikipedia fest, dass kaum ältere Menschen Artikel schrieben. Dabei haben gerade sie viel Zeit und auch eine Menge spezifisches Wissen. Voß erzählt von dem Mann, dem dann auffiel, dass die Denkmallisten des Landes gar nicht bebildert waren. „Der läuft nun los und schießt gezielt Fotos.“ Seine häufigen Spaziergänge haben jetzt einen Zweck. 2500 Bilder habe er inzwischen online eingestellt. Wikipedia ist sein Fitnesstool und bringt seinen Kreislauf in Schwung. Hätte einer das vermutet?
Neulingen empfiehlt Voß als Erstes, das Kartenspiel „Solitär“ auf dem Rechner zu spielen, damit sie die Feinmotorik mit der Maus in den Griff bekommen. Wie schnell bewegt sich ein Cursor? Kann ich drücken und ziehen gleichzeitig? „Wenn einer im Berufsleben nicht gerade Sekretärin gewesen ist, ist das schon die erste große Hürde.“ Danach bringen sie ihnen hier nicht nur bei, wie sie die Knöpfe richtig bedienen, sondern auch, den Zweck von Cookies zu hinterfragen, nicht überall „Ja“ zu klicken und eine Haltung zur eigenen Sicherheit zu entwickeln. Das ist echte Selbstständigkeit.
Angst würde Günter Voß das Zögern vieler alter Menschen im Netz gar nicht nennen. „Eher eine Vorsicht, die sich aus Lebenserfahrung speist.“ Voß erinnert sich an eine simple Taschenlampen-App, die vor drei Jahren die Gerätedaten und den Aufenthaltsort der Nutzer auslas und an Dritte weitergab. So etwas passiere immer wieder. Doch inzwischen, sagt Voß, kaufen sich Ältere ihre Technik auch selbst. Sie bekommen nicht mehr nur die Tablets vom Enkel geschenkt.
Medienkompetenz ist Altersvorsorge
Zuletzt war er mit einigen Senioren bei Google in der Friedrichstraße, wo man ihnen „Roberta“ vorstellte, einen Roboter-Baukasten auf Lego-Basis, der mit Technik vom Fraunhofer-Institut ausgestattet ist und etwa mit einem Ultraschallsensor, einem Farbsensor und einem Berührungssensor ausgestattet werden kann. Eigentlich ist Roberta als Lernmodell dafür gedacht, Kinder in Grundschulen für Technik zu interessieren. Sie werden die ersten Senioren sein, die demnächst am integrativen Projekt einer Grundschule teilnehmen werden.
Für die, die noch fremdeln und auch den Weg in einen Club nie finden würden, gibt es in der Edeka-Passage der Fischerinsel am 19. März ein Projekt der Initiative „Vernetzte Nachbarschaft“. 257 Mietparteien wohnen in jedem einzelnen Hochhaus, viele der Bewohner sind Senioren. Das Projekt schlägt eine erste Brücke zum Netz: Man kann Kärtchen mit Vorschlägen, wie die Fischerinsel „beblumt“ werden soll, in einen Briefkasten werfen. „Das wird dann digitalisiert und in einem Blog gepostet.“ So kriege man recht schnell ein Meinungsbild. Auch wenn das Blumen-Projekt jetzt erst mal niedlich klingt: „Medienkompetenz ist Altersvorsorge“, sagt Voß. Damit dürfe man nicht erst beginnen, wenn der Partner mit dem Online-Konto gerade gestorben ist.