Paul und Paula: Liebe kennt kein Zeit
Ein Defa-Film? 35 Jahre alt? Vollkommen egal: "Die Legende von Paul und Paula" lebt!
Eine 1,80 m große Danzigerin wurde Anfang der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts vor einer Zoppoter Apotheke von einem noch viel größeren Bayern aufgehalten. Er hieß Franz Glatzeder. Ohne diese schicksalhafte Begegnung zweier Menschen, die gewohnt waren, tief auf ihre Umwelt hinabzusehen, hätte es das denkwürdigste Liebespaar der DDR drei Jahrzehnte später so nie gegeben: den großen Paul - Winfried Glatzeder - und die kleine Paula - Angelica Domröse - in Heiner Carows Legende.
Soeben haben die Zuschauer des RBB "Die Legende von Paul und Paula" auf Platz 3 der schönsten Berlin-Filme gewählt, nach "Cabaret" und "Eins, Zwei, Drei" und vor "Goodbye Lenin".
Bei der "Legende" handelt es sich um den Spezialfall des Berlin-Rummelsburg Films. Die Rummelsburger Bucht, der alte Spreekahnfriedhof, wurde längst in Paul-und-Paula-Ufer umbenannt. Nicht jedem Film widerfährt so etwas. Auch Paula, Angelica Domröse, gehörte jüngst zu den über 120 Unterzeichnern des offenen Briefes an den großen Defa-Skeptiker Volker Schlöndorff. Das fand Schlöndorff besonders schräg: "Wieso sind die prominentesten Unterzeichner frühzeitig in den Westen gegangen, wenn es bei der Defa nicht doch ‚furchtbar' war? … Waren die Filme frei, inhaltlich und ästhetisch?"
Schauen wir also noch einmal nach: Wie frei waren Paul und Paula? Und weil Paul in diesem Jahr aus Paulas Schatten herausgetreten ist - Glatzeders' Erinnerungen "Paul und ich" (Aufbau-Verlag) sind 2008 zum Bestseller geworden - versuchen wir das unter besonderer Berücksichtigung von Paul. Die These ist: "Die Legende von Paul und Paula" handelt von nichts anderem als dem Aroma der Freiheit. (Auch sind alle Berlin-Filme in Wirklichkeit Freiheitsfilme!)
Diktaturen sind kunstfreundlich, weil sie zur Sublimierung zwingen
Die wichtigste Landschaft der "Legende" ist aber gar nicht Berlin, weder Rummelsburg noch Friedrichshain. Die wichtigste Landschaft hier sind die Körper. Körper besitzen eine eigene Sprache, sie haben Fantasie - und manchmal erlösen sie selbst ihre Inhaber, solche an sich unerlösbaren DDR-Funktionärstypen wie diesen Film-Paul. Menschen also, die auf die Welt kommen, um von anderen gelebt zu werden - von den Umständen, ja, von dem Erstbesten, der eine Forderung an sie stellt.
Und dann tritt Paula (Angelica Domröse) in Pauls Dasein, nicht die Erste, aber gleich die Beste, und ihr Fordern ist ohne Beispiel und ohne Rücksicht auf alle nur denkbaren Umstände. Als gäbe es nichts auf der Welt als sie selbst - Staatswesen wie die DDR mochten solche Vorstellungen gar nicht. Und so sah das geladene, DDR-offizielle Publikum bei der Premiere vor genau 35 Jahren wie gelähmt zu, wie Paula ihrem Paul mit tiefem Ernst Pfeffer und Salz in die tiefen Näpfe zwischen seinen Schlüsselbeinen füllte. Auch die hatte er seiner Danziger Mutter Ellen und Franz Glatzeder aus München zu verdanken. Eine irgendwie subversive - soll man sagen: latent staatsfeindliche - Physis? Damals sah das jeder.
Die Frage nach der Freiheit wird schnell plump in Kunstdingen. Kunst ist Sublimierung, sie besteht nicht zuletzt aus lauter Unterschwelligkeiten. Diktaturen sind insofern kunstfreundlich, weil sie ihrerseits zur Sublimierung zwingen. So wird selbst die Sprache der Körper zur politischen Aussage: Da steht einer in der Gegend rum, da ist an einem alles zu lang, zu kantig. Der ist nirgends richtig einzupassen. Eine gute Nachricht aus der Welt der Körper ist das. Und dieser Paul besitzt eine Ausstrahlung von überwältigend abwartender Passivität und Nichtteilnahme.
Vielleicht war Winfried Glatzeder der Typus des "neuen Mannes" in der DDR - gerade ob dieser Passivität. Manfred Krug dagegen verkörperte vergleichsweise den ältesten Typus Mann - den Vertreter der vita activa. Nie hätte er es wie Glatzeder zum überzeugenden, "mit der Ruhe eines Auftragskillers" (Glatzeder) arbeitenden Hausmann in einem katastrophischen Großhaushalt gebracht ("Der Mann, der nach der Oma kam") und sogar zum Sexobjekt - unvergessen die Hand, die ihm in "Till Eulenspiegel" in großer Langsamkeit in die Hose fährt. Schon sein Paul war weit entfernt davon, ein klassischer Mann, also Eroberer zu sein. Er war der Eroberte. Immer irgendwo dazwischen, und nur eines ist ganz gewiss: die Ungewissheit. Der neue Typus Mann.
Die Nachkriegsgeschichten lassen sich nicht trennen
In "Paul und ich" wird offenkundig, wie unmöglich es ist, die eine deutsche Nachkriegsgeschichte von der anderen deutschen Nachkriegsgeschichte zu trennen, sie gar in eine Geschichte der Freiheit und eine der Unfreiheit zu teilen. Familientradition und Zeitumstände arbeiteten beide mit großer Energie daran, dass der junge Winfried nichts vorfand, woran man sich hätte halten können. Auch nicht, was das Verhältnis von Männern und Frauen betraf, diese Elementarschicht der Freiheit. Freiheit bedeutet etwas durchaus Beängstigendes, nämlich freigesetzt, aus allen Bindungen entlassen zu werden.
Glatzeders Großvater, der Danziger Bauunternehmer Gustav Adolf Werner hatte sich mit aller Kraft gegen diesen Münchner Trikotagenvertreter gewehrt, der keine anderen Empfehlungen mitbrachte als ein abgebrochenes Medizinstudium. Für Mutter Ellen würde er dennoch lebenslang der ideale Mann bleiben, eine Art Paul also. Denn es ging Winfried Glatzeders Eltern so wie Paul und Paula später. Der frühe Tod des einen verhinderte, dass sie sich jemals wirklich kennenlernen mussten.
Der bestimmende Mann in Winfried Glatzeders Jugend wurde Großvater Gustav Adolf, der den sicheren Tod des Säuglings schon im Mutterleib verhinderte, indem er es strikt ablehnte, sich im Januar 1945 mit 9000 anderen Ostpreußen auf die später versenkte "Wilhelm Gustloff" zu drängen. Mit den Russen, dachte der unerschrockene Bourgeois, Besitzer einer prächtigen Sechs-Zimmerwohnung würde er sich schon vertragen. Schließlich war er vor dem Krieg Sozialdemokrat gewesen. Wenig später zog die ganze Familie mit nichts als einem Leiterwagen, bepackt mit Betten und Töpfen, gen Westen. In einer Fabrikantenvilla ist Winfried Glatzeder dann doch großgeworden, aber mitten im Sozialismus. Gustav Adolf, Bauunternehmer im Nachkriegs-Westberlin, dankte der DDR auf Knien für ihre Existenz. Denn dorthin war der Pleitier vor seinen Westberliner Gläubigern geflohen, um nun Bezirksbürgermeister von Berlin-Lichtenberg zu werden.
Menschen lieben, in wem sie sich wiedererkennen. Dieser Winfried Glatzeder, dieser Typ mit den akuten Orientierungsschwierigkeiten, mit diesem gewissen Weltvorbehalt - war der nicht wie sie, ein Jedermann? Einer, der schon wollen würde, wüsste er nur was. Glatzeder ist der Gegentypus des Schauspielers, der mit dem Gedanken "Ich muss den Hamlet spielen!" geboren wird. Seine schauspielerische Karriere verdankte er vielmehr der sozialistischen Produktion. Bereits am Abend seines ersten Arbeitstags im VEB Kühlautomat Berlin brach der angehende Lehrling des Maschinenbaus (mit Abitur) in Tränen aus. Schlagartig sei ihm klar geworden, dass seine Kindheit vorbei war.
Leben ausleihen, das können nur Schauspieler
Da war es doch besser, sich immer wieder das Leben anderer Leute auszuleihen, ohne es wirklich durchhalten zu müssen. Das können nur die Schauspieler.
Des Realismus und des Talents wegen spielte er vorzugsweise Nebensichstehende - ist das nicht der natürliche Aufenthaltsort der meisten Menschen in Ost und West und Nord und Süd? Und dann wurde er Paul. Glatzeder war nur einer von vielen möglichen Pauls, aber: "Als Carow, Plenzdorf und der Kameramann Jürgen Bauer die Probeaufnahmen sahen, waren sie sich einig: Die sind es." Glatzeder selbst stand staunend vor Angelica Domröse, die er als kühle Kollegin kannte, und die jetzt, vor der Kamera, eine Art hatte, auf ihn zuzukommen, dass er es kaum glauben konnte. Er versuchte da irgendwie mitzuhalten, standzuhalten und das war er schon: der ganze Paul, das war seine linkische Authentizität, überwältigt von einer Frau. "Während Angelica ihren makellosen Körper selbstbewusst präsentierte, genierte ich mich für meine Nacktheit, die damals an die traurige Gestalt eines Don Quichote erinnerte. Es dauerte lange, bis ich mich so, wie ich bin, akzeptierte."
"Paula" hat die DDR zuerst verlassen, nicht weil die Defa furchtbar war, sondern weil die DDR die Unterzeichner des Protestbriefes gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 wie Unpersonen behandelte. Es war am Ende eine Frage der Selbstachtung zu gehen.
"Paul" überquerte am 21. Juli 1982 den Grenzübergang Bornholmer Straße. Ausgerechnet an dem Tag, an dem die Villen-Ruine, in die er jede freie Minute verbaut hatte, fertig, bewohnbar war, wusste er, dass er in diesem verlogenen kleinen Land nicht mehr leben wollte. Diese ewig Unentschlossenen können manchmal sehr endgültige Entscheidungen treffen.
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