Kritische Bestandsaufnahme des "Spiegel": Keine Angst vor der Wahrheit
„Der Spiegel“ bespiegelt sich in einem tiefgreifenden „Innovationsreport“. Alles wird beklagt: Markenchaos, Organisation, Hierarchie
Der aktuelle Werbeclaim des „Spiegel“ heißt „Keine Angst vor der Wahrheit“. Das brutal ehrliche Ergebnis eisenharter Recherche will das Nachrichtenmagazin bieten. Das Arbeitsprinzip wurde, und das ist neu in der selbstgewissen Geschichte des „Sturmgeschützes der Demokratie“ (Gründer Rudolf Augstein), jetzt auch intern angewandt. In einem „Innovationsreport“ mit „Arbeitsstand 4.1.2016“ werden die aktuten Schwächen und Defizite in der Spiegel-Gruppe analysiert. Als Erster hat darüber SWR-Chefreporter Thomas Leif berichtet. Es ist ein Papier, an dem ein 22-köpfiges Team aus Redaktion, Verlag und Dokumentation seit Juni 2015 arbeitet. „Arbeitsstand 4.1.2016“ heißt auch, dass die Projektgruppe am Abschlussbericht noch arbeitet. Initiiert, aber nicht gelenkt wurde die Bestandaufnahme von Chefredaktion und Geschäftsführung. Die Projektgruppe könne frei und ohne jede Zensur arbeiten, ließen sie verlauten.
Eingeflossen sind eine Mitarbeiterumfrage, Expertenbefragungen, interne und externe Marktdaten. Das vermittelte Bild soll realistisch, repräsentativ und objektiv sein. Soll keiner sagen können, er hätte es nicht gewusst, wenn der „Spiegel“ in noch schwereres Wasser kommt.
Hohe Verluste bei Auflage und Anzeigen
Fakten, die dramatisch klingen: Das Magazin hat in den vergangenen zehn Jahren 19 Prozent seiner Auflage verloren und 70 Prozent seiner Anzeigen. Im ersten Quartal 2015, auf den sich der Report bezieht, wurden 796 235 Exemplare verlauft, seitdem ist die Auflage laut IVW-Messung weiter gesunken.
Die 61 Seiten des „Innovationsreports“ benennen unter der Überschrift „Der Spiegel 2015: Unsere Innovationshemmnisse“ zunächst vier Probleme: „Uns fehlt eine Markenstrategie“; „Wir haben keine echte Kultur der Zusammenarbeit“; „Wir leiden unter einer überkommenen Organisationsstruktur“; „Wir haben ein Haltungsproblem“.
Das Versinken des „Spiegel“ im „Markenchaos“ wird über die 37 Logos der Firmengruppe aus „Spiegel“, „Spiegel online“ und Spiegel-TV dokumentiert. Es fehle eine klare Markendefinition, eine Gesamtstrategie, was zu Reibungsverlusten führe und die Schlagkraft begrenze. Der Ton ist Tacheles: „Reichweitenprobleme reden wir systematisch schön.“ Dass das Magazin das meistzitierte Medium in Deutschland sei, von den Entscheidern gelesen werde, sei erfreulich. „Aber es bringt nichts, es tröstet nur.“
Teil des "Nimbus" verloren
Die Diagnose geht noch tiefer, der „Spiegel“ habe einen Teil seines „Nimbus“ verloren, Selbstherrlichkeit, ja Überheblichkeit herrsche vor. „Das Alleinstellungsmerkmal ,Exklusivität’ und ,Hintergründe’ besitzen wir nicht mehr.“ Der journalistische Kern ist angekratzt. Offenbar wird, dass die Krise bestimmte Verhaltensweisen noch befördert hat. Knapp 90 Prozent der Mitarbeiter beklagen, dass es in der Spiegel-Gruppe „keine echte Kultur der Zusammenarbeit“ gibt. Gearbeitet wird in der Blase, schon der nächste Sektor ist eine „Black Box“, die Kommunikation im Unternehmen wird als schlecht bewertet.
Eng damit zusammen hängt die „überkommene Organisationsstruktur“. Jede Einheit kämpft für sich und damit gegen andere, die Auseinandersetzungen zwischen „Spiegel“ und „Spiegel online“ sind ja schon längst nach außen gedrungen. Zitat: „Wie können wir eins werden, wenn ein Teil über die anderen bestimmt, doppelt so viel verdient und das alles noch mit einem arroganten Gehabe raushänge lässt?“ Kein Wunder, dass da die extrem unterschiedlichen Privilegien beklagt und die große Schwankungsbreite bei den Gehältern beklagt werden. Der Report erlaubt sich dann das „Gedankenspiel: Wenn MicKinsey kommt...“ Die Beratungsgesellschaft also würde Privilegien eindampfen, Sonderstellungen („immerhin rund 50 Kollegen“) abschaffen, das Output von Stellen befördern. „Renommee muss erarbeitet werden. Es ist vergänglich und hängt nicht an Titeln“, heißt es. McKinsey, so wird insinuiert, würde festellen, dass das Heft auch von der Hälfte der heutigen Redaktion gemacht werden könnte. Kritiker des Reports sagen übrigens, dass McKinsey tatsächlich beauftragt war.
Auszug aus der Zentrale gefordert
Zu dem Maßnahmenkatalog, wie die Zukunft gewonnen werden kann, gehört die Forderung nach einem neuen Umgang miteinander– Ende mit Herrschaftswissen und Autoritätsgehabe –, was in einen Zusammenhang mit einer verbesserten Kommunikationskultur gesehen und mit einer radikalen Idee verknüpft wird: „Wir müssen aus der Zentrale raus.“ Statt unzähliger Einzelbüros und verwaister Gänge brauche es Teamflächen und Räume für interdisziplinäre Projekte.
Auch die heiligste Kuh des „Spiegel“ schonen die Revisoren nicht: die Gesellschafterstruktur. Der Verlag Gruner + Jahr hält 25,5 Prozent, die Erbengemeinschaft Augstein 24 Prozent, die Mitarbeiter-KG 50,5 Prozent. Tief gespalten sind die Gesellschafter, unwillig zu innovativen Entscheidungen. Wie groß. ja unüberwindlich das Problem zu sein scheint, illustriert der Lösungvorschlag: häufigere Treffen.
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