Arte-Doku über "Menschen-Zoos": Kannibalen gucken
Als Völkerschauen ein Massen-Vergnügen waren: Ein schonungsloser Arte-Dokumentarfilm über „,Die Wilden' in den Menschen-Zoos“
Petite Capeline war zweieinhalb Jahre alt, als sie im Pariser Vergnügungspark Jardin d’Acclimatation an einer Lungenentzündung starb. Die Sterbeurkunde weist den 30. September 1881, vier Uhr nachmittags, als Todeszeitpunkt aus. Die Mutter des kleinen Mädchens und die neun weiteren Frauen und Männer eines indigenen Volkes aus Patagonien, die kurz zuvor nach Europa verschleppt worden waren, begruben sie am Abend im Park. „Am nächsten Tag geht die Show weiter“, lautet der lakonische Kommentar in dem französischen Dokumentarfilm „,Die Wilden‘ in den Menschenzoos“. In dieser „Show“ lebt die Gruppe in einem geschlossenen Gehege und hat „nichts weiter zu tun, als sich anstarren zu lassen“, schildern die Autoren Bruno Victor-Pujebet und Pascal Blanchard, der hier als einer der Historiker auch vor der Kamera zu Wort kommt. Besucher hätten sie mit Steinen beworfen, „so wie sie den Affen Erdnüsse zuwerfen“.
Der Film schildert schonungslos und mit einer Fülle an Bildmaterial, wie sich die entwürdigenden „Kolonialschauen“ seit Ende des 19. Jahrhunderts in Europa und den USA zu einer Massen-Attraktion – und einem guten Geschäft – entwickelten. Die Liste der Archive, die im Abspann genannt wird, ist von beeindruckender Länge. Das Dilemma allerdings ist offenkundig: Die meisten Fotos und Filmsequenzen sind im Geiste des Rassismus entstanden, der hier angeprangert wird, aus der Perspektive weißer Europäer oder Nordamerikaner, die fasziniert, verächtlich, mitleidig auf die vermeintlich unzivilisierten „Wilden“ herabblicken. Deren Darstellung hat nur wenig bis nichts mit ihrer realen Lebensweise zu tun. Die Menschen werden gerne als Kannibalen präsentiert, damit sich das Publikum ordentlich gruselt. Oder auf andere Weise erregt wird. So werden halbnackte Frauenkörper auf eine Weise inszeniert, „die eine zügellose Sexualität andeuten sollen – eine Phantasie-Vorstellung, die das Jahrhundert überdauern wird“.
Ein Dilemma: Voyeurismus dokumentieren, ohne voyeuristisch zu sein
Wie aber kann man Voyeurismus dokumentieren, ohne selbst voyeuristisch zu sein? Vollständig können die Autoren das Dilemma nicht auflösen, aber sie tun, was getan werden kann. Nicht jedes einzelne Bild, aber die Entwicklung der „Kolonialschauen“ insgesamt wird historisch gründlich eingeordnet. Der Film unterteilt diese in drei zeitliche Epochen, beginnend mit „1880-1890 – Eine neue Attraktion“, und vergisst dabei auch nicht zu erwähnen, dass „Wilde“ bereits seit dem 16. Jahrhundert an Königshöfen vorgeführt und seit Beginn des 19. Jahrhunderts auf Märkten oder in Theatern einem großen Publikum präsentiert wurden. Die fortschreitende Kolonisierung und die Faszination für ferne, exotische Welten löst nun jedoch einen regelrechten Boom aus. Die historische Forschung habe erst in den 1990er Jahren begonnen, sich für das Thema zu interessieren, heißt es im Film. Nun weiß man, dass zwischen 1810 und 1940 knapp 35 000 Personen vor fast eineinhalb Milliarden Besuchern in Tierparks, im Zirkus, in Theatern und Anatomiesälen, auf Kolonial- und Weltausstellungen präsentiert wurden. Zugleich wurden viele von ihnen im Dienste einer anthropologischen Forschung, die die Menschheit in minder- und höherwertige Rassen aufteilte, vermessen und fotografiert.
Die damaligen Opfer bleiben im Film jedoch nicht reine Objekte einer rassistischen Perspektive. Stellvertretend schildern die Autoren einzelne Schicksale wie das von Petite Capeline und der kleinen Gruppe aus Patagonien, von denen nur zwei heimkehrten. 1970 starb der letzte Mensch dieses indigenen Volkes, wohl auch als Folge einer aus Europa eingeschleppten Lungenkrankheit. In anderen Fällen konnten noch Angehörige ausfindig gemacht wurden, zum Beispiel von Moliko, einer Frau aus dem in Guayana beheimateten Volk der Kali’na. „Die Weißen ließen sie allen möglichen Unsinn aufführen“, erinnert sich die greise Enkelin Carolina Toka, die das erste Mal Abbildungen ihrer Großmutter in Europa zu Gesicht bekommt. „Ein solches Verhalten ist Misshandlung.“
Der Schwerpunkt des von Arte France produzierten Films liegt verständlicher Weise in Frankreich; immerhin kommt die Rolle des Hamburger Tierhändlers Carl Hagenbeck zur Sprache. Und am Ende hilft ein Beispiel aus der Kunst, die Bilderflut zu reflektieren. Die amerikanische Fotografin Ayana Jackson stellt die damaligen anthropologischen Aufnahmen nach und inszeniert sie neu. „Wir müssen unseren ausufernden Bilderkonsum bewusst und kritisch betrachten, denn Bilder sind sehr mächtig“, sagt Jackson.
„,Die Wilden‘ in den Menschen-Zoos“; Arte, Sonnabend, 20 Uhr 15
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