40 Jahre "Rockpalast": „I’ve lost my mind in Essen“
Vor 40 Jahren revolutionierte die ARD mit der „Rockpalast Nacht“ das Musikfernsehen.
Als Rock nach Rolltor klang, war die Welt voll Musik, sie auch zu sehen allerdings gar nicht so leicht. Am Bildschirm lief „Zum Blauen Bock“ mit Heinz Schenk, im Kino Schlager mit Roy Black. Und sonst? Donnerte der Sound of ’77 zwar wie eine Dampfwalze durch die Hitparade, doch fürs Auge wurde abgesehen vom eigenen Konzertbesuch wenig geboten. Kein MTViva, nicht mal Videos, geschweige denn Youtube. Nirgends. Als der Schnauzträger Albrecht Metzger am 23. Juli vor 40 Jahren nach dem „Wort zum Sonntag“ den Rock ’n’ Roll mit kurzem Rolltor-O im Ersten anmoderiert hat, grollte ein Erdbeben durch deutsche Wohnstuben. Die „Rockpalast Nacht“ war geboren.
Ein paar politische, soziale, digitale Revolutionen später kann man sich kaum vorstellen, was das für die Jugend bedeutet hat: drei altersgerechte Gigs am Stück, zum Auftakt Genrestars wie Rory Gallagher und Little Feat, live aus der Grugahalle Essen. „Das waren richtige Feten“, erinnert sich Wolfgang Niedecken an eine Zeit, als sich auch seine Fans mit Kartoffelsalat und Pils bei Freunden verabredet hatten, um mit zig Millionen Gleichgesinnten in halb Europa eins der 17 Feste brüllender Gitarren zu gucken.
Fast zur gleichen Zeit, Sonntagfrüh um 0 Uhr 40, erinnert die ARD in „40 Jahre Rocknacht“ an ein Format, das einst TV-Geschichte schrieb. Ohne Drehbuch, Konzept – ja ersichtliche Bildregie – hagelte es darin bis zur letzten Ausgabe mit Niedeckens BAP im März 1986 sechs Stunden Anarchie auf ein popkulturell ausgehungertes Publikum. Schon vor der Premiere, das zeigt Oliver Schwabes Geburtstagsfilm in nostalgisch knisternden Bildern, hatte sich offenbar niemand größere Gedanken über den Ablauf gemacht.
Umbaupausen? Wurden schon mal mit 45 Minuten Soundcheck gefüllt. Moderationstexte? Bestanden aus hinreißend sinnfreiem Gelaber. Stereosound? Wurde dem Monomedium Fernsehen parallel vom Radio zugeliefert. Interviews? Liefern 40 Jahre später den Untertitel der Doku. „I’ve lost my mind in Essen“, war ja alles, was Metzgers englischer Ko-Moderator Alan Bangs der hackedichten Headliner Patti Smith in Folge vier entlocken konnte. Ansonsten herrschte Rock ’n’ Roll um des Rock ’n’ Roll willen, nicht für Quote oder Programmstruktur. „Ich hab’ mir in die Hose geschissen“, erinnert sich Metzger im Singsang seiner schwäbischen Heimat an dieses Chaos. Der Pensionär klingt dabei, als habe er es genossen.
Die Zeit des Palastes, der seit 1974 mit Live-Lärm im Dritten für Röhrenhosenflair am Röhrenapparat gesorgt hatte, war vor allem eine, in der Musik nicht für den Massengebrauch zugerichtet, sondern im Rohzustand gezeigt wurde. Einfach so. Und verglichen mit der stromlinienförmigen Fahrstuhlödnis von heute sogar prominent platziert. Wer Uschi Nerkes „Beat-Club“ der Sechziger jetzt im Netz aufruft, Manfred Sexauers „Musikladen“ der Siebziger oder zwischendrin Ilja Richters „Disco“, der erkennt zwar schon am Begräbnistonfall der Ansager, wie suspekt dem Leitmedium jener Tage die Popkultur war. Aber auch wie lieb. So gern, wie sie zur besten Sendezeit lief.
Video killed the Rockpalast-Star
Doch ausgerechnet als MTV dem Sound seiner Zeit Anfang der Achtziger zu globaler Präsenz verhalf und die Pop- zur Leitkultur machte, verschwand das Live-Element peu à peu vom Schirm. „Video killed the ,Rockpalast‘-Star“, ließe sich in Abwandlung jenes Buggles-Clips sagen, der das Musikfernsehen am 1. August 1980 eröffnet hat. Zwei Jahre darauf zog „Formel eins“ im Ersten nach und half unbewusst mit, die „Rockpalast Nacht“ aus der öffentlichen Wahrnehmung zu drängen. Gegen die audiovisuelle Inszenierung hatte das impulsive Konzert nur noch unplugged im Bergwerk eine Chance. Weil das Musikvideo als Kunstform parallel bis zur Unkenntlichkeit kommerzialisiert wurde, degenerierte Viva zum Klingeltonkanal, während MTV dem Bedeutungsverlust seines Markenkerns in die Kostenpflichtigkeit entfloh, wo es nun Teenager verkuppelt.
Das Musikfernsehen ist tot? Es lebe das Musikfernsehen! Sein analoger Hauptinhalt erhielt bei den neuen Medien Asyl und vertont dort das Dasein der digital natives per Playlists, Instagram, Youtube zum Lebensvideo in Endlosschleife.
Heute nur noch Konzertplattform des WDR
Doch während der digitale Sound scheinbar nie verklingt, gibt’s seit der Zerschlagung von ZDFkultur am Fernseher nur noch drei Darreichungsformen der Musik: mit Volks- davor, als Jingle, nachts bei Arte. Auch der „Rockpalast“ hörte zwar nie auf zu rocken, dient aber nur noch als Label ausgewählter Festivals oder als Konzertplattform des WDR. Etwa für Bands wie Die Nerven. Weil das Indie-Trio aus Stuttgart – unter weitestgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit – bei „Rockpalast Crossroads“ aufgetreten ist, meint Bassist Julian Knoth in der Doku, „nimmt mich meine Oma als Musiker ernst“. Er meint das positiv.
„I’ve lost my mind in Essen“, ARD, Sonntag, 0 Uhr 40; Rockpalast-Konzerte von U2 (1983), REM (1998), Rage Against The Machine (2000), ARD, Sonntag, 1 Uhr 25. „Best of 40 Jahre Rockpalast“. WDR, 29. Juli, 0 Uhr 30 und „Die erste Rocknacht“, WDR, 29. Juli, 3 Uhr 20
Jan Freitag
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