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Zusammengesetzte Welt. In „Fallout 4“ entstehen Siedlungen aus den rostigen Überresten von Chicago aus der Zeit vor dem Atomschlag.
©  Bethesda

So hat "Fallout 4" das Spielen verändert: In jedem Weltuntergang liegt deine Chance

Videospiele wie "Fallout 4" entdecken ihre utopischen Ansätze. Dennoch bleibt Gewalt ein vorherrschendes Thema.

2077, eine idyllische Vorstadt in Neuengland. Unser fliegender Hausroboter macht gerade den Abwasch, das Baby schreit, als plötzlich im Fernseher verkündet wird, dass der dritte Weltkrieg vor der Tür steht – in Form tausender Atombomben, die die Erde in Schutt und Asche legen werden.

So zieht das Action-Rollenspiel „Fallout 4“ die Spielenden in eine dystopische Spielwelt, die dazu einlädt, hunderte Stunden in ihr zu verbringen. Doch zu Beginn gilt es zu entscheiden: Mann oder Frau sein? Nach dieser vermeintlich schwerwiegenden Entscheidung wählt man die Hautfarbe, die Größe, den Umfang, die Physiognomie. Eine Freiheit, die nur die wenigstens Spiele bieten können oder wollen.

Dann steigen wir in einen Bunker, um uns vor dem Atomschlag in Sicherheit zu bringen. Dort werden wir in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt. 210 Jahre später erwachen wir, bekommen gerade noch mit, wie unser Partner getötet und unser Kind entführt wird. Wir entsteigen dem „Vault“ und betreten eine trostlose, endzeitliche Welt – das „Commonwealth“.

So beginnt eines der kommerziell erfolgreichsten Spiele des Jahres. Doch was macht „Fallout“ anders als andere Reihen? Man betritt eine Welt, die nach dem Atomkrieg vollkommen zerstört und verstrahlt ist. Gerade Endzeitszenarien eignen sich für die Verhandlung utopischer Ideen. Die Menschheit erlebt ihre Stunde null. Alle gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Normen sind über Bord geworfen. Ein kompletter Neuanfang ist möglich.

Man schreitet mit den staunenden Augen eines Entdeckers durch eine zerstörte Welt. Die Spielenden sind nicht Teil des gesellschaftlichen Systems, sie erfahren dieses erst. Und bauen es mit auf. Dass man zu Beginn vor der Entscheidung steht, mit welchem Geschlecht man die Welt erforschen möchte, ist keine Selbstverständlichkeit. Die längste Zeit war es die Norm, dass der Hauptcharakter männlich ist.

Das Schleichspiel „Assassins Creed“ etwa führte erst im sechsten Hauptteil der Serie eine Protagonistin ein – und die Entwickler inszenierten dies sogleich als großen Wurf. Allerdings spielt das „biologische“ Geschlecht in „Fallout 4“ kaum eine Rolle. Sowohl bei Gegnern (zum Beispiel den herumvagabundierenden Räuberbanden) als auch bei Freunden wird das Geschlecht nicht in den Mittelpunkt gestellt.

Tradierte Männer- und Frauenrollen existieren nicht mehr

Der Entwickler thematisierte diesen Umstand im Vorfeld der Veröffentlichung nicht. Es war nicht Teil der gewaltigen Werbemaschine. Durch dieses Nicht-Thematisieren wird eine Normalität hergestellt, in der tradierte Männer- und Frauenrollen nicht mehr existieren. Ebenso verhält es sich mit der Hautfarbe. Rassismus aufgrund der Herkunft und des Aussehens gibt es in der Welt von „Fallout 4“ nicht mehr. Wenn der Tag dadurch bestimmt ist, am Leben zu bleiben, ist einfach kein Raum mehr für Vorurteile, die auf Konstrukten wie Geschlecht oder Rasse basieren.

Während eine Gangsterreihe wie „Grand Theft Auto“ ebenfalls eine Spielewelt bietet, in der man sich und die Umgebung austesten kann, basieren die gesellschaftlichen Strukturen aber weiterhin auf vermeintlich realen Verhältnissen. Frauen sind lediglich Nebencharaktere, Prostituierte stehen an Straßenecken, ein schwarzer Protagonist taucht erst im fünften Teil "San Andreas" auf – und lebt im Ghetto. „Grand Theft Auto“ reproduziert die bestehenden Verhältnisse, ohne sie zu hinterfragen, und normalisiert diese somit.

Auch die Liebe inszeniert „Fallout 4“ anders – Polyamorie ist wie selbstverständlich möglich. Traditionelle Beziehungsstrukturen werden ersetzt durch die Möglichkeit, mehrere Partner zu haben – egal welchen Geschlechts. Anders verfährt da das Rollenspiel „Witcher 3“, in welchem der Protagonist weiß und männlich ist und wie selbstverständlich umgeben von Frauen in knappen Outfits. „Dragon Age: Inquisition“ hingegen hat als eines der ersten Fantasyspiele einen spielbaren schwulen Charakter. Anders als bei „Fallout 4“ wird diesem erzählerisch seine Sexualität jedoch eingeschrieben, sie ist also vorbestimmt.

Trotzdem präsentiert „Fallout 4“ vor allem eine Welt, die von Gewalt und Tristesse bestimmt ist. In diesem Aspekt verharrt das Spiel also in alten Denkweisen. Wie so oft ist Waffengewalt die erste Wahl. Dennoch sind es gerade die Momente, in denen man in den Dialog mit anderen Figuren tritt, in denen lieber geschlichen und umgangen statt konfrontiert und getötet wird, die im Gedächtnis bleiben. Es wird einem also nicht nur die Destruktion an die Hand gegeben, sondern vor allem die Konstruktion in einer dekonstruierten Welt. Und diese Möglichkeit wird von Millionen Spielerinnen und Spielern angenommen – sie erkunden die Welt, entdecken die Nuancen, bauen Siedlungen (ein komplett neues Feature von „Fallout 4“) – kurzum, sie schreiben ihre eigenen und einzigartigen Geschichten.

Und eben da kann die Stärke eines Videospiels liegen. Welten zu schaffen, in denen wir durch unser eigenes Handeln die Gesellschaft mitkreieren, in der zu leben wir selbst erhoffen. Wir erzählen unsere Geschichten selbst, durch unsere Entscheidungen und die Wege, die wir gehen. Ebendies unterscheidet Videospiele von Filmen oder Büchern, von Fiktionen aus anderer Hand.

Gerade in diesen Tagen, die von Chaos und Angst bestimmt sind, lässt der Gedanke Mut aufkommen, dass eine oftmals befürchtete Zeitenwende auch für jeden Einzelnen die Möglichkeit bietet, sein Leben selbst neu zu gestalten – und damit auch eine Gesellschaft, die wir heute noch als eine Utopie sehen würden.

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Utopien in der Literatur

Der Begriff Utopie fand 1516 mit Thomas Morus seinen Ursprung. Nur radikale Änderungen können in seinem Werk eine Gesellschaft reformieren. Die Insel Utopia ist dieser (Nicht-) Ort, an dem eine vollkommene Gesellschaftsordnung herrscht. Diese stellte sich schlussendlich jedoch als nicht erreichbar heraus, da sie auf der Aufhebung des Sündenfalls fußen müsste – eine Unmöglichkeit. In mittelalterlichen Versromanen wie etwa dem „Alexander-Roman“, gut 300 Jahre vor Morus, lassen sich auch schon utopische Ideen finden: Orte an denen sexuelle Freiheit ohne Schuldgefühle zu genießen sind. Es handelt sich dabei immer um Gegenden fernab der „zivilisierten“ Welt, in denen höfische Normstrukturen nicht greifen, es sind Anders-Orte, in denen exotisierte Kreaturen dem staunenden Auge des Alexander die wildesten Phantasien vorspielen. Hier wird also die Möglichkeit einer Welt verhandelt, die fernab der christlichen Sozialisation Räume schafft in denen tradierte Normen nicht gelten. Bekannt sein dürfte der Amazonen-Staat, in dem ein Matriarchat herrscht und Männer komplett ausgeschlossen werden – ein radikales Gedankenspiel. In der Moderne findet ein Wandel statt: Der utopische Ort wird von einer möglichen anderen Welt zu einem Endpunkt in der Zukunft. Der Fortschrittsgedanke der Moderne wird dahin getrieben, dass die Gesellschaft durch technischen (industrielle Revolution) und moralischen (sozialistische Bewegungen) Fortschritt in einer idealen Ordnung enden muss. Die Utopie wird notwendige Entwicklung.

Gleichzeitig entstehen dystopische Gegenwelten. Die Angst vor einer lediglich technisch-materialistischen Zukunft lässt Texte entstehen, in denen negative Gesellschaften konstruiert werden. In diesen ist der Protagonist nicht mehr ein staunender Entdecker, wie noch Alexander in einer fremden, faszinierenden Welt, sondern selbst Teil der repressiven Gesellschaft, oft als Außenseiter. Der Klassiker ist hier wohl „A Brave New World“ von Aldous Huxley aus dem Jahre 1932.

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