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Diese Kandidaten müssen sich qualifizieren, Kandidaten zu werden:  Oliver Sanne, Djamila Rowe, Filip Pavlovic, Zoe Saip, Christina Dimitriou, Lars Tönsfeuerborn, Lydia Kelovitz, Mike Heiter, Xenia von Sachsen, Sam Dylan, Frank Fussbroich, Bea Fiedler (von links oben). Statt eines langen, langen Fluges nach Australien geht es diesmal, coronabedingt, zur Show nach Köln-Hürth.
© RTL

Wieder da: „Ich bin ein Star!“: Ich will gefunden werden!

Weil Australien für das Dschungelcamp gesperrt ist, schickt RTL sein B- und C-Personal ins Casting für 2022. Ist das ein Modell mit Zukunft?

Casting, der neudeutsche Begriff täuscht ein wenig darüber hinweg, ist weit älter als das Fernsehen. Weil altdeutsche Bühnenschauspieler laufende Kinobilder würdelos fanden, musste bereits das Stummfilmpersonal ja unter Laien gesucht werden. Robert Wiene sprach den künftigen Ufa-Star Lil Dagover fürs „Cabinet des Dr. Cagliari“ in Berlin der Legende nach mit den Worten „Verzeihen Sie gnädige Frau“ an und erfand so schon 1919 das Street-Casting. 34 Jahre später moderierte Peter Frankenfeld mit „Toi Toi Toi“ die erste Talentshow am Bildschirm. Und seit RTL2 das Millennium mit kommenden „Popstars“ begrüßte, ist das Nachwuchsangeln zur Schleppnetzfischerei verkommen.

Abgesehen vom Beifang ulkiger Exhibitionisten allerdings sucht auch das oberflächliche Casting-Format am Ende Menschen mit besonderer Fähigkeit – egal ob Gesang, Humor, Akrobatik, Zauberei, Fremd- oder Selbstdarstellung. Bisher zumindest. Wenn RTL am Freitag um 22 Uhr 15 mal wieder „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ (IBES) vom Flatscreen brüllt, ziehen die abgehalfterten A-Promis und nachgezüchteten D-Promis früherer Staffeln nämlich nicht ins „Dschungelcamp“ – dank der coronabedingten Reisebeschränkung wird es 15 000 Kilometer nordwestwärts verlegt, um im milden Klima der rheinischen Tiefebene 2021 das „IBES“-Personal 2022 zu ermitteln.

Ein Casting zum Casting also, gewissermaßen die Suche nach der Suche nach Leuten, die im Grunde gar nicht gesucht werden müssten. Die Herausforderung der Redaktion besteht ja eigentlich vor allem darin, aus dem trüben Teich angeblicher Berühmtheit Jahr für Jahr ein Dutzend verzweifelter Selbstdarsteller zu ziehen, deren Wiedererkennungswert zumindest ein bisschen größer ist als ihr Mangel an Scham und Ekel.

Die „große Dschungelshow“ zur Ermittlung künftiger Insassen klingt daher, als würden sich Organbanken um Spendernierenempfänger bewerben, nicht umgekehrt.

Auch wenn RTL die Besetzung seiner Reisegruppen lange geheim gehalten hat wie Ferdinand Tönnies die Haltungsbedingungen seiner Schlachtopfer, scheint demnach eines doch klar zu sein: Leicht ist es trotz Antrittsprämie und Preisgeld nicht, Promis mit Buchstaben aus dem ersten Drittel des Alphabets zu finden.

Letzte Chance auf Restbestände öffentlicher Anteilnahme

Einerseits. Denn andererseits besteht die mediale Existenzberechtigung all derer, die nun in 15 Live-Shows ums „goldene Ticket für Australien“ kämpfen, einzig darin, erwerbsmäßig über die Aufmerksamkeitsrampen des privaten Entertainments zu stolzieren.

Bis auf den ersten Star der deutschen Reality-Geschichte – Frank Fussbroich – bedient sich das Portfolio der zwölf Kandidaten und Kandidatinnen demnach ausschließlich aus Peep-Shows wie „Bachelor“ oder „Love Island“, ergänzt um die Vorrundenaussaat im Kürzel-Kosmos „DSDSGNTM“.

Abgesehen von der sächsischen Prinzessin Xenia dürften die Namen von Lydia Kelovitz bis Lars Tönsfeuerborn, Zoe Saip bis Sam Dylan daher vornehmlich Abonnenten einschlägiger Gossip-Portale und Youtube-Kanäle geläufig sein. Immerhin. Während „IBES“ 2021 fürs ergraute Playmate Bea Fiedler die letzte Chance auf Restbestände öffentlicher Anteilnahme sein dürfte, betreiben einige der Seifenoperntenöre und -sopranistinnen wenigstens noch Eigenreklame.

Um diese Art Business nicht misszuverstehen: Das Leben darin kann bei aller Demütigung durchaus reell sein. ABC-Promi ist ein Beruf und gewiss nicht der schlechtbezahlteste. Sich dafür jedoch in zwei Wochen live qualifizieren zu müssen, senkt die Würde der Protagonisten dann doch auf Kellerniveau.

Und nicht nur ihres – auch das der Verantwortlichen. Weil die Isolation des Dschungelcamps bei aller Kritik am Madenfraß regelmäßig für Augenblicke unterhaltsamer Wahrhaftigkeit sorgt, besaß die Show ja teilweise mehr Tiefgang als sachliche Dokumentationen.

Fernab dieser Laborsituation aber läuft jede Dschungelprüfung am Rheinufer eventuell ähnlich ins Leere wie die Sottisen von Sonja Zietlow und Daniel Hartwich, denen der begabte Micky Beisenherz Gehässigkeiten aufs Moderationskärtchen schreibt.

Die Dschungelshow ist also weder Ersatz der Etappe zur 15. Ausgabe Anfang 2022 – sie existiert allein, weil das Frühjahr nun mal „IBES“-Zeit ist und Werbepartner wie Stammzuschauer gefüttert werden wollen. Immerhin verspricht RTL reichlich Rückblicknostalgie, ein Defilee früherer Camp-Bewohner inklusive. Und im pandemischen Ausnahmezustand sind lieb- gewonnene Gewohnheiten bekanntlich nicht die schlechtesten Heilmittel.

Jan Freitag

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