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Selber schon mal verdächtigt: Rudi Cerne moderiert seit 2002 bei „Aktenzeichen XY ... ungelöst“.
© ZDF und Tim Thiel

500mal "Aktenzeichen XY": Rudi Cerne: „Ich selbst bin da ein gebranntes Kind“

Wie war das noch mal mit Christian Klar? Rudi Cerne über Denunziantentum, das TV-Phänomen „Aktenzeichen XY“, Kriminalstatistiken und – die Verwechslung mit einem Terroristen.

Herr Cerne, Sie kennen das Zitat „Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant“?

Ja, ich weiß aber nicht, von wem es ist.

Angeblich Hoffmann von Fallersleben, immerhin Texter der deutschen Nationalhymne. Wer anderen etwas Böses will, schwingt da mit, braucht sie also bloß zu diskreditieren. Fühlen Sie sich und Ihre Sendung da angesprochen?
Nein, ganz und gar nicht. Die Ermittler gehen Hinweisen bei XY äußerst behutsam nach. Wenn eine Person mit einem Fall in Verbindung gebracht wird, wird sehr genau überprüft. Erst dann, also bei begründetem Verdacht gehen die Ermittlungen los.

Wie viele Hinweise kriegt Ihre Sendung denn nach 500 Folgen in fast 50 Jahren so pro Fall?
Das lässt sich pauschal nicht beantworten. Im Fall der weltweit gesuchten Madeleine McCann waren es 1000 Anrufe, von denen wollten aber auch schon vor der Sendung einige ihre Betroffenheit zum Ausdruck bringen. Eduard Zimmermann hätte das „nicht sachdienlich“ genannt, aber wir freuen uns, denn es zeigt, dass XY auch anderes bewirkt. Im Durchschnitt erreichen uns 150 bis 200 Anrufe pro Sendung.

Dennoch wird Ihr Format damit vielfach förmlich identifiziert. Im „Spiegel“ war mal von „Staatsbürgerkunde für Denunzianten“ die Rede.
Witzigerweise hat ein Leser diesen Satz 2008 zu Ihrem Beitrag über den „XY“-Preis geschrieben, während andere die Tendenz des Artikels kritisierten; auch das gehört zur Wahrheit! Dazu ein paar Fakten: In 13 Jahren, die ich jetzt „Aktenzeichen XY“ moderiere, ist mir nicht ein Fall bekannt, in dem jemand auf falsche Hinweise hin Opfer eines Justizirrtums wurde. Öffentlichkeitsfahndung ist ein probates Mittel der Verbrechensaufklärung, und da sind wir für die Polizei der erste Ansprechpartner, auch wenn es um Cold Cases geht, also Fälle, die lange zurückliegen. Da ist uns schon sehr oft die Aufklärung gelungen.

Zum Beispiel?
Eine Frau aus Königswinter galt fünf Jahre als vermisst, bis der Fall 2008 auf Initiative der Tochter wieder aufgerollt wurde. Fünf Jahre später erhielt „XY“ den entscheidenden Hinweis, dass Sigrid Paulus von ihrem Ehemann umgebracht wurde. Der Täter meinte hinterher, er sei erleichtert gewesen, weil er selbst nicht die Kraft zu einem Geständnis hatte. Das war in jeder Hinsicht ein Erfolg unserer Sendung.

Wie erklären Sie sich, dass er schon seit fast 50 Jahren anhält?
Nicht nur das – wir sind eines der wenigen Fernsehformate, dessen Quote sogar zulegt, zuletzt auf 5,3 Millionen im Schnitt und sehr stark bei jüngeren Zuschauern.

Wegen der Aufklärungsrate, dem Thrill, dieser frühen Form von Interaktivität?
Es gibt viele Aspekte, die alle zum Erfolg beitragen. Die Filme sind natürlich professioneller geworden und werden von Regisseuren gedreht, die auch für „SoKo“ oder „Tatort“ arbeiten. Hinzu kommt, dass wir keine Geschichten erfinden, sondern Realität abbilden. Das bewegt die Zuschauer, denn die Vorstellung, dass ein gefährlicher Straftäter weiter frei herumläuft, ist schon ziemlich gruselig. Die Hoffnung, dass der Täter schnell gefasst wird, liegt mit 40 Prozent relativ hoch und macht die Relevanz der Sendung aus.

Hat „Aktenzeichen XY“ Ihre eigene Sicht auf Kriminalität verändert?
Gar nicht. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, kein ängstlicher, und schlafe nachts nach wie vor gut. Auch im Wissen, dass sich Verbrechen nicht lohnt. Haben Sie mal von Lolita Brieger gehört?

Nie.
Auch sie galt als vermisst, 29 Jahre lang. Als wir 2011 den Fall aufnahmen, glaubte keiner, dass „XY“ noch helfen kann. Aber wir bekamen den Hinweis eines Mitwissers, durch den Lolita Briegers Leiche gefunden und der Fall endlich geklärt werden konnte.

So sehen typische „XY“-Fälle aus: Mord & Totschlag, Einbruch & Raub, Vergewaltigung & Gewaltexzesse. Erweckt diese Auswahl nicht den falschen Eindruck, schwerste Verbrechen nähmen permanent zu?
Was meinen Sie denn?

Während die Zahl solcher Delikte in den Augen befragter Bürger permanent ansteigt, geht sie laut Kriminalstatistik seit Jahren zurück.
Die Behauptung, dass die Menschen nicht zwischen Film und Realität unterscheiden können, würde ich so nicht teilen. Laut Kriminalitätsentwicklung 2014 lagen die polizeilich registrierten Straftaten insgesamt bei knapp über sechs Millionen. Seit 2009 ist das erstmalig ein Anstieg.

Der vorwiegend auf Betrugskriminalität, besonders im Internet, zurückzuführen ist.
Gut, aber „XY“ nimmt ohnehin nur solche Kapitaldelikte auf, bei denen wir helfen sollen und können. Dass wir uns bei Film- und Studiofällen ausschließlich an Fakten halten, ist selbstverständlich.

Da heiligt der Zweck die Mittel?
Wir können die Öffentlichkeit nur zur Mithilfe mobilisieren, wenn die Emotionen der Zuschauer geweckt werden. Dabei sind wir so zurückhaltend wie möglich. Straftäter tauchen oft in der Masse unbescholtener Bürger unter; kein Wunder, wenn es da mal zu Verwechslungen kommt. Ich selbst bin da, Sie wissen das sicher, ein gebranntes Kind.

Als Sie mit dem Terroristen Christian Klar verwechselt wurden.
Genau. Da stand ich natürlich unter Strom und hatte ein ziemlich mulmiges Gefühl. Aber ich habe den Anweisungen Folge geleistet, was ich jedem nur empfehlen kann.

Aber hatten Sie im Anschluss kein Gefühl von Willkür und Polizeistaat, nachdem man Sie zu Unrecht mit der Waffe bedroht und festgenommen hatte?
Überhaupt nicht. Die machen ihren Job. Zum einen hatte ich fortan eine fantastische Story zu erzählen. Zum anderen hatte ich so kurz nach dem „Deutschen Herbst“ Verständnis für solche Kontrollen. Meine Festnahme beruhte übrigens auf der „Denunziation“ einer Person, der meine ja tatsächlich vorhandene Ähnlichkeit mit Christian Klar aufgefallen war.

Sind Sie beim Blick auf Ihr bisheriges Leben eher Eiskunstläufer, Sportmoderator oder Verbrecherjäger?
Von allem ein bisschen. Der größte Luxus meines Lebens ist ja, dass ich zwischen sehr verschiedenen Polen wechseln darf. Scherzhaft ausgedrückt: Ich pendle zwischen Sport und Mord. Bei meiner Entscheidung für „XY“ mögen einige die Nase gerümpft haben, aber im Rückblick ist dieser, wie ich finde, wichtige Job heute für mich mehr wert als eine Goldmedaille.

Schwebt denn der Schatten von Eduard Zimmermann, dem Erfinder der „XY“-Sendung, noch ein wenig über Ihnen?
Ich würde eher sagen, dass er mir ein großartiges Erbe zu verwalten gab. Dafür bin ich ihm und dem ZDF sehr dankbar.

Rudi Cerne, Jahrgang 1958, gewann 1978 und 1980 die Deutsche Meisterschaft im Eiskunstlauf, 1984 die Silbermedaille bei der Europameisterschaft in Budapest. Danach wurde er Profi bei Holiday on Ice. Durch Praktika kam Cerne zum Fernsehjournalismus und wurde freier Mitarbeiter bei WDR und HR. Er berichtete live von Eiskunstlaufveranstaltungen und Tanzturnieren. 1996 wechselte er zum ZDF. Neben seiner Tätigkeit als Sportmoderator präsentiert Cerne seit dem 18. Januar 2002 die Sendung „Aktenzeichen XY …“ ungelöst. Das Format wurde 1967 von Eduard Zimmermann erfunden und läuft am Mittwoch (ZDF, 20 Uhr 15) zum 500. Mal. In Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei werden unaufgeklärte Verbrechen behandelt. Das stieß auch auf kritische Stimmen, die der Sendung Menschenjagd, Förderung des Denunziantentums oder Diskriminierung von Minderheiten vorwarfen.

Jan Freitag

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