Große Oper um 20 Uhr 15: Gottschalk ging, Lanz kam - und "Wetten, dass..?" verlor
Am Samstag läuft die ZDF-Show zum letzten Mal, doch die Fernsehunterhaltung geht weiter.
Der Optimist kann jetzt sagen: Endlich fängt das „Aktuelle Sport-Studio“ im ZDF zur ausgedruckten Uhrzeit an. Der Pessimist wird sagen: Aus, aus, aus, der Samstagabend ist aus.
Zwei Haltungen, eine Show. „Wetten, dass..?" geht am 13. Dezember ins Finale, danach ist Schluss. Das ZDF sendet weiter, aber ohne die erfolgreichste Show seiner und der deutschen Fernsehgeschichte. Mindestens die Couch hat einen Platz im Deutschen Historischen Museum verdient. Thomas Gottschalk, der beste „Wetten, dass..?“-Moderator aller Zeiten, steht schon als Wachsfigur bei Madame Tussauds.
„Wetten, dass..?“ endet nicht auf dem Höhepunkt seiner Strahl- und seiner Zugkraft. Markus Lanz, der vierte und letzte Moderator, wird auf ewig mit dem überraschend schnellen Niedergang verbunden bleiben, es war ein Irrtum des ZDF (und auch dieses Fernsehkritikers), dass in dem Talkmaster Lanz der Showmaster Lanz zu entdecken und zu entwickeln ist. Der Südtiroler beherrscht die kleine Form des Studiogesprächs, er kann einen einzelnen Gast verbal umarmen, einen Fernsehzirkus mit Charme und Chuzpe zu umfangen, das kann er nicht. Das konnte von allen vier Moderatoren – neben Lanz und Gottschalk noch der Erfinder Frank Elstner (39 Sendungen) und der Nachwende-Kurzarbeiter Wolfgang Lippert (neun Ausgaben) – eben nur Thomas Gottschalk. Von allen 215 Ausgaben hat er mit 151 den Löwenanteil präsentiert. Der barocke Bayer passte zu „Wetten, dass..?“, die Show passte zu ihm wie seine kunterbunten Outfits. Gottschalk hat das Format beherrscht, er hat es sich einverleibt; wie sehr, das merkten und vermissten Sender und Zuschauer erst, als Markus Lanz die Show um die Ecke moderierte. Lanz zum Trost: Im Showmaster Gottschalk steckt kein Talkmaster, der ARD-Vorabendversuch „Gottschalk live“ war unterm Strich mindestens eine so große Gottschalk-Pleite wie „Wetten, dass..?“ ein Markus-Lanz-Desaster ist.
Das ZDF stemmte „Wetten, dass..?“ sechs, sieben Mal in jedem Sendejahr. Dafür, dass es 53 Samstage im Jahr gibt, ist das nicht viel. Die Behauptung, dass sich mit dem Wegfall der ZDF- Show eine Leerstelle im TV-Vergnügen auftut, ist waghalsig. „Wetten, dass..?“ stach heraus, das schon, doch entschied die Sendung keinesfalls über die Stimmung im Fernsehvolk. Die Show war das i-Tüpfelchen, das kleiner und kleiner wurde, Europas einstmals größte Show-Insel wurde vom umliegenden Programm-Meer mehr und mehr angeknabbert.
Die Zuschauer nutzen das Medium Fernsehen heute ganz anders als bei der „Wetten, dass..?“-Premiere am 14. Februar 1981. Damals hatte der durchschnittliche bundesdeutsche Haushalt die Wahl unter sieben Fernsehprogrammen. Alle waren öffentlich-rechtlich. 1992 kamen im Schnitt 15 Programme ins Haus, 2011 war die Zahl auf 78 gestiegen. Drei Jahre später, im Zeitalter der Internet-Empfängnis und der zunehmenden Konvergenz der Medientechniken, ist die Zahl ins Dreistellige explodiert. 1992 stand in den Haushalten meist nur ein Fernsehapparat, 2011 nannte fast jeder zweite mehrere Empfangsgeräte sein Eigen. PC, Laptop, Smartphone, aus allen elektronischen Apparaten quillt das Bild, rinnt der Ton. Wir Zuschauer sind ins elektronische Paradies eingezogen. Viele Bäume, zahllose Äpfel: Die Befreiung des Zuschauers aus seiner nicht selbst verschuldeten Fernsehunmündigkeit. „Wetten, dass..?“ hielt lange wacker und erfolgreich dagegen, aber der Samen war im Boden. Von der jahrzehntelangen Allmacht der Redakteure ging es schnell und schneller zur Macht der Zuschauer. Die Nachfrage begann das Angebot zu dominieren.
Zuschauer unterhalten sich anders und andersartig mit dem Fernsehen
Die Quote von „Wetten, dass..?“ war Anfang der 2010er Jahre immer wieder unter die Zehn-Millionen-Marke gerutscht – eine wahre Katastrophe sieht anders aus. Die kam urplötzlich, der Ernst brach ins Spiel ein, in der Ausgabe vom 4. Dezember 2010, in der sich der Wettkandidat Samuel Koch beim Federsprung über ein Auto einen Halswirbel brach. Thomas Gottschalk zog sich zurück, Markus Lanz traute sich was – und verlor. Seitdem steht die Show nackt da. Aber die Niederlage von Markus Lanz passierte in einem Programmumfeld, in dem ein fortwährender Siegeszug von Thomas Gottschalk keinesfalls gesichert war. Es ist etwas Revolutionäres passiert. Wir unterhalten uns anders und andersartig mit dem Fernsehen. „Wetten, dass..?“ besetzt den Rand und nicht länger das Zentrum.
Das Kuriose dabei: Das Mehr an Unterhaltung hat zu keinem Mehr an Showunterhaltung geführt. Was mit „Vergissmeinnicht“ und Peter Frankenfeld, Hans-Joachim Kulenkampffs „Einer wird gewinnen“, „Am laufenden Band“ mit Rudi Carrell, „Der goldene Schuss“ mit Lou van Burg und Vico Torriani, Wim Thoelkes „Der große Preis“, „Wünsch Dir was“ mit Dietmar Schönherr/Vivi Bach im Topos des „televisionären Lagerfeuers“ zusammengeführt wurde, hat in „Wetten, dass..?“ seinen wahrscheinlich letzten Höhepunkt gefunden. Hier wie dort die berechtigte Erwartung der Zuschauer, dass am Samstag um 20 Uhr 15 großes Kino, große Oper, großer Zirkus, Spiel, Spaß und Spannung auf dem Programm stehen. Käseigel, Salzstangen und Alkohol nur in dem Quantum, dass die Kinder, frisch gebadet und im Bademantel vor dem Schirm, nicht erschraken. Mehr-Generationen-Fernsehen ohne jede Altersbeschränkung, Gesprächsstoff für Sonntag und vielleicht noch Montag. Fernsehen in Gemeinschaft und für die Gesellschaft. Das wurde derart wichtig genommen, dass sich Bundeskanzler Gerhard Schröder von der SPD 1999 mit seinem Auftritt bei „Wetten, dass..?“ endgültig zum Medienkanzler machte. Es gab zahllose solcher wundersamer, wunderschöner Momente bei „Wetten, dass..?“. Und vor so vielen Millionen Zuschauern, dass sich der allgemeine Eindruck herausgebildet hat, am Samstag schalte ganz Deutschland das Zweite ein. Stimmt nicht, der Samstag war auch in Glanzzeiten von „Wetten, dass..?“ der Wochentag mit der geringsten Fernsehnutzung. Aber egal, Glamour ist Glanz.
Müssen jetzt keinem die Tränen in die Augen schießen. Der brachiale Unsinn, der in jeder Showunterhaltung steckt – und die Wetten bei „Wetten, dass..?“ sind der fröhliche Katholizismus des von Vernunft, Zweckgerichtetheit und protestantischer Arbeitsethik kurzfristig befreiten Mitmenschen –, der brachiale Unsinn also kennt mittlerweile viele Spielarten. Ein Stefan Raab duelliert sich bis nachts um 2 Uhr 30 mit einem Kandidaten mit Leibesübung, Geschicklichkeit und einem Spritzer Geist, Joko & Klaas machen leicht hinterhältiges Große-Jungens-Fernsehen in ihrem Grand Prix um die Welt. Schon hier dreht sich das Kopierwerk, immerhin charmant überspielt mit Moderatoren, die sich mit Leib und Seele riskieren. Drum herum ist das Derivate-Programm arrondiert. Im Doppelachsel: Was in der öffentlich-rechtlichen U-Schraube die Verquizzung, das ist im kommerziellen Counterpart die Vercastung. Beides mit Publikumsbeteiligung, als Mitrater, als Mitbestimmer im Voting. Drei, vier, fünf (hurra!) Millionen, das sind die neuen Bestmarken. Inzwischen gibt es mehr Quizsendungen als Fragen, mehr Castingtalente als Songs. Aus der Gewohnheit Fernsehen haben die Sender das Gewohnheitsfernsehen destilliert. Nennen wir das mal postmodern, das klingt schön positiv. Bei aller Fetzen- Anarchie haben sich Macher und Zuschauer darauf verständigt, dass (Fernseh-)Unterhaltung in Deutschland nicht Freiheit, sondern Notwendigkeit ist.
Das Fernsehen hat weniger an Kraft verloren, als dass es seine Kräfte neu verteilt hat. Was am Samstag stattfindet, das kann auch am Mittwoch oder am Donnerstag stattfinden. Das Fernsehen hat mit seiner Betriebsschwäche am Samstag den Samstag weichgesendet. Die Emanzipation des Zuschauers läuft parallel zur Verbückung der Macher. Die Erfinder von „EWG“, die Rampensäue am „Laufenden Band“, der Wim mit Wumm, sie waren – selbstredend in ihren Grenzen damals erlaubter Unterhaltung – mutig, wagemutig. Und, bitte, bitte, nicht vergessen: Auf dem Programmfriedhof ruhen zahllose Showideen, selbst ein Frank Elstner hat „Nase vorn“ und „Elstner und die Detektive“ schneller beendet als begonnen. Das Problem heute ist, dass das Fernsehen um sich selbst kreist. „Gute Unterhaltung geht aber nur, wenn man neugierig ist und rausgeht“, dekretiert Hugo Egon Balder. Wer in den Sendern will „Ich war’s“ rufen müssen, wenn etwas in die Grütze geht? Die Frage darf gestellt sein, ob die Redakteure das Fernsehen lieben oder daran leiden – und einen begnadeten Entertainer wie Hape Kerkeling mit 50 seine Autobiografie schreiben lassen dürfen.
Der Zuschauer hat ein bisschen gehadert, doch die Hitzewallungen über das Lanz-„Wetten, dass..?“ verspürten die allermeisten Zuschauer nicht. Sie haben sich davongemacht, nicht als Stampede, nicht in großer Fluchtbewegung, sondern leichtfüßig, ja elegant. Unterhaltung im Fernsehen, was ist das? Der Antworten sind viele. Drei ragen heraus: Krimi und Sport, beides wenn möglich multipliziert mit dem Faktor Event. Die massenhafte Liebe des Publikums zur Krimi-Unterhaltung kulminiert im „Tatort“ am Sonntag. Zehn, wenn nicht mehr Millionen Deutsche lassen sich vom Räuber-und-Gendarm-Spiel fesseln. Montagskrimi im Zweiten, „Der Alte“, „Bella Block“, Importware wie die Wallander-Verfilmungen – krimiverrückt sind sie, die Fernsehgermanen. Bewegen sie sich sonst nur hochversichert und abgesichert durch den Alltag, wird im Fernsehkrimi zu gerne die Prise Unordnung geschnupft, das Gewaltmonopol des Staates gebrochen. Und dann der Fußballsport. Längst bewerten die Kommentatoren und Reporter in jeder TV-Übertragung die „gute“ und die „schlechte“ Unterhaltung eines Spiels. Fußball ist Fernsehprogramm geworden, nur noch Illusionisten wie die Weihnachtslied-Singer von Eisern Union imaginieren den Sport im Millionenspiel.
Ob TV-Unterhaltung gut ist, gleicht der Frage, ob das Essen gut ist
Ob eine Sendung gute Unterhaltung bietet oder nicht, darüber lässt sich so ernsthaft und so ergebnislos streiten wie über die Frage, ob das Essen gut war. Gute Unterhaltung hebt den Zuschauer in einen gelösten Gemütszustand, entführt ihn in die Entspannung; das schafft der Krimi so gut wie der Fußball oder eine Show. Spaß darf, Ablenkung muss sein, im direkten Erleben mit dem First Screen, in der Unterhaltung mit anderen auf dem Second Screen. Und wer mit Mediatheken, Video- on-Demand-Portalen und Youtube findig umgehen kann, der kann sich unterhalten ohne Grenzen in Raum und Zeit. Der Alles-und-zu-jederzeit-Kanal hat an der Exklusivität, am extraordinären Schein und Sein auch von „Wetten, dass..?“ heftig genagt. Auftritt von „Tokio Hotel“? Gähn. 55 Waschmaschinen in 55 Minuten zu einer Pyramide aufbauen? Gähn. Youtube ist großartig, Youtube ist gemein. Ein Talent, und welches Talent es auch immer sein mag,muss längst nicht mehr ins Fernsehen. Youtube steht mit seinem überbordenden Sortiment für eine viel gelungenere Zuschauer-Interaktion, als sie alle Casting-, Quiz- und sonstige Voting-Volten leisten können. Bei Youtube ist der Nutzer wie nirgendwo sonst als Individuum herausgekitzelt. Seine ganze Persönlichkeit findet in der bewussten Auswahl seine ganze Entsprechung: Das Ich entscheidet. Das Fernsehen ist Leitmedium nur noch für das mit ihm älter gewordene Publikum. Dieses Publikum lässt sich mit einem Programm-Menü verwöhnen, wo andere sich am Buffet bedienen. Beider Genuss ist möglich. Die Wahrscheinlichkeit allerdings, einen Zuschauer unter 30 zu irgendeinem Zeitpunkt am Tag vor dem Fernsehgerät zu finden, ist auf unter 50 Prozent gerutscht. Natürlich punktet das Fernsehen unverändert bei den jüngeren Generationen. Wenn Zielgruppen-TV-, wenn Gemeinschaftserlebnis bei „Tatort“ oder Fußballsport, wenn Fan-Fernsehen für Fan-Zuschauer angesagt ist.
Und dann ist Entertainment vielschichtig und speziell geworden, sehr vielschichtig und sehr speziell. Das gilt für alle Branchen. Manche Heavy- Metal-Konzertkritik liest sich wie eine Anleitung zum Unglücklichsein, so sehr wird die x-te Heavy-Metal-Variante sequenziert und der gemeine Metaller ausgeschlossen. Das Showfernsehen seinerseits sieht sich herausgefordert, auf Veränderungen von Lebensstilen, Lebensläufen und Interessen Antworten finden zu müssen. Solche oder solche. „Wetten, dass..?“ findet sie nicht mehr.
Jede Form der Fernsehunterhaltung ist endlich und endlicher noch als so vieles in dieser Welt. Also auch „Wetten, das..?“, wo nur das schlumpfige Finale einstige Herrlichkeit und Seligkeit dieser TV-Monstrosität dementiert. Sei’s drum. Das Ende von „Wetten, dass..?“ ist das Ende einer Fernsehunterhaltung. Und nicht das Ende der Fernsehunterhaltung.