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Kein Entkommen. Die Corona-Schlange hat den Journalismus fest im Griff.
© imago

Medien in der Pandemie: Gesinnung? Wir brauchen Aufklärung!

Wie ein Virus grassiert unter Journalisten der Irrtum, sie müssten für die Berliner Corona-Politik Partei ergreifen

Schon seit einem Jahr starrt das Karnickel wie gelähmt auf die Schlage. Das Karnickel sind wir, die Bewohner demokratisch regierter Staaten; die Schlange ist das Coronavirus. Doch genau genommen ist es gar nicht die Schlange selbst, vor der wir in Angst erstarren. Es sind die Schilderungen über diese anscheinend so heimtückische Schlange, die uns die Medien mit großen Bildergeschichten, langen Expertenbefragungen und zahllosen Grafiken tagtäglich erzählen. Wie sollen wir mit diesen Erzählungen umgehen? Neunmalkluge Kritiker fragen: Stimmen sie überhaupt? Es ist eine irreführende Frage, denn niemand weiß genau, wie diese Schlange sich wirklich verhält, ob und wann sie sich häutet und verändert. Überprüfen kann man nur, was die Schlangenbeschwörer und vom Schlangengift Betroffenen über sie erzählen: Stimmen ihre Schilderungen überein? Was wissen sie, was behaupten sie nur?

Auch nach einem Jahr wird niemand bestreiten, dass die Corona-Pandemie ein komplexes, kaum durchschautes Geschehen darstellt. Erfassen kann es nur, wer es aus verschiedenen Richtungen in den Blick nimmt. Zu den großen, anspruchsvollen Aufgaben der Journalisten zählt, diese Komplexität in Augenschein zu nehmen und ihrem Publikum auch widersprüchliche Positionen in verständlicher Form darzulegen. Dies unterscheidet den Journalismus seit eh und je von der PR, die allein die enge Sicht ihres Auftraggebers kritiklos vermitteln soll.

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Ich bin damit beim Essay von Malte Lehming angelangt, der vor vier Wochen an dieser Stelle stand und den Untertitel trug: „Warum die Kritik an zu großer Übereinstimmung von Politik und Medien in Sachen Corona nicht greift.“ Ich meine, dieses Essay zeigt – offenbar ungewollt – ein tiefsitzendes Missverständnis vieler Journalisten.

Medienfrust in der Bevölkerung

Einerseits liefert Malte Lehming eine zutreffende Darstellung solcher Befunde, die den Medienfrust großer Bevölkerungsteile dokumentieren. Er nennt eine Studie, die über die Corona-Sondersendungen der Öffentlich-Rechtlichen zu dem Schluss kam, die Medienmacher hätten ein permanentes Krisen- und Bedrohungsszenario erzeugt. Lehming weist auch auf eine Studie hin, die im vergangenen Frühsommer den Medien ein „distanz- und kritikloses“ Verhältnis zu Zahlen und Statistiken ankreidete. Er zitiert weiter eine Repräsentativbefragung, der zufolge jeder vierte Bürger glaubt, dass Politik und Medien „unter einer Decke stecken“. Andere Erhebungen bekräftigen, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung den Eindruck hat, die Mainstreammedien – allen voran ARD und ZDF – propagierten die Corona-Politik der Bundesregierung, während zur Corona-Politik kritisch eingestellte Fachleute kaum zu Wort kämen. Die vorige Woche publizierten Daten des Edelman Trust Barometer spiegeln ein noch krasseres Bild: Rund 60 Prozent der Befragten finden, die Journalisten würden nicht überparteilich und objektiv berichten, sondern politische Positionen und Ideologien vertreten. Die Deutung ist also gut belegt, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung die Mainstreammedien für regierungsgläubig hält und sie deshalb intensiv nutzt, weil man die Verlautbarungen der anordnenden Politiker und Magistraten detailliert erfahren und interpretiert haben möchte.

Sofern die Journalisten davon ausgehen, dass die Erwachsenenbevölkerung überwiegend aus zurechnungs- und denkfähigen Personen besteht, müsste die von Lehming referierte Medienkritik in den Redaktionen wie ein Alarmsignal schrillen: Was machen wir falsch? Das Missverständnis besteht darin, dass Malte Lehming die Alarmlampe als grünes Licht deutet: nur weiter so!

Ausdruck einer Wertegemeinschaft

Denn andererseits rechtfertigt er seinen Gleichklang mit den Lockdown-Politikern damit, dass doch Maskengebot und Ausgehbeschränkung gut und notwendig seien. „Journalisten, die das verstehen, als Kumpane der Regierung zu verunglimpfen, ist unfair.“ Schließlich gehe es in der Coronakrise „um Leben und Tod“. Und wenn das Gros der Journalisten „moralisch ähnlich empfindet wie das Gros der Parlamentarier“, dann sei dies „Ausdruck einer Wertegemeinschaft“.

Genau hier wird das tiefsitzende Missverständnis zum Diskursproblem: Stellvertretend für viele andere rechtfertigt Lehming seine Parteinahme für die rotgrünschwarze Regierungspolitik mit der Chiffre „Wertegemeinschaft“. Was ist das? Zweifelsfrei braucht der seriöse Journalismus eine auf Werte bezogene Haltung. Doch diese bezieht sich auf unsere Grundordnung, die wir aus guten Gründen eine demokratisch-freiheitliche nennen. Sie gewährleistet auch die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit, die durch die Lockdown-Politik massiv beschränkt wird.

Haltung: Wenn wir die einschlägigen Bundesverfassungsgerichtsurteile, die Landespressegesetze und den Medienstaatsvertrag heranziehen, dann sehen wir, dass diese Haltung nicht mit Gesinnung, sondern mit handwerklichen Fertigkeiten verbunden ist, etwa: zutreffend und umfassend berichten, relevante Vorgänge recherchieren, verschiedene Positionen zu Gehör bringen und darin einen Beitrag zur Meinungsbildung, mithin zum öffentlichen Diskurs leisten. Und die wichtigste Fertigkeit lautet: Tatsachen und Meinung trennen!

Berichte sind einseitig

Bei Malte Lehming erfahren wir nichts über diese Aufgaben. Diese werden unter den Meinungsteppich einer „Wertegemeinschaft“ gekehrt. Die will von der Haltung des journalistischen Profis – der ORF-Journalist Armin Wolf sagt: „skeptisch-interessiert & militant unabhängig“ – nichts wissen. Unsere derzeit laufenden Inhaltsanalysen zur Corona-Berichterstattung bestätigen dies: Die Berichte in den Mainstreammedien wirken (zu) oft einseitig und tendenziös.

Darin allerdings stimme ich Malte Lehming zu: Das Meinungsspektrum weitet sich derzeit. Wir finden jetzt häufiger Recherchen und Analysen, die mit der aktuellen Pandemiebekämpfung kritisch umgehen und abweichende Positionen aufzeigen. Doch diese Differenzierung trat erst ein, als in der Adventszeit die Widersprüche der Lockdown-Politik offensichtlich und der Unmut in der Bevölkerung unüberhörbar wurden.

Parallele zur Flüchtlingskrise

Ich sehe hier eine Parallele zur Flüchtlingskrise. Die im Herbst 2015 medial propagierte Willkommenskultur verklang im Gefolge der sogenannten Kölner Silvesternacht, als viele Journalisten ihre Willkommenseuphorie im Rückblick als naiv und parteiergreifend erkannten. Auch diesmal kommt es zum Realitätsschock, der die Politiker, dem Schlangenkämpfer Laokoon ähnlich, zur Verzweiflung bringen wird. Dann werden auch die Mainstreammedien auf Distanz gehen und kritische Kommentare schreiben, frei nach Karl Kraus: Hinterher haben sie alles schon vorher gewusst.

Der Autor ist wissenschaftlicher Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung in Leipzig. Bis zu seiner Emeritierung 2010 hatte er den Lehrstuhl für Journalistik an der Universität Leipzig inne.

Michael Haller

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