ARD-Serie „Oktoberfest 1900“: Gangs von München
Grandioser Regie-Streich: Die Miniserie „Oktoberfest 1900“ mit Mišel Matičević ist weit mehr als ein prominent besetztes Sittengemälde.
Wenn es sich nicht gerade um epochale Ereignisse handelt, stellt sich bei historischen TV-Stoffen stets die Frage: Warum sollten sich Fernsehzuschauer im 21. Jahrhundert für einen Kampf ums Münchener Oktoberfest vor 120 Jahren interessieren? Diese famos besetzte Bier-undBlut-Saga braucht jedoch nur wenige Augenblicke, um jeden Zweifel zu tilgen. Das liegt auch an der auf wahren Begebenheiten basierenden epischen Handlung, die alsbald Shakespeare-Format annimmt.
Zu einem „Event“, das den Vergleich mit „Babylon Berlin“ durchaus nicht scheuen muss, wird „Oktoberfest 1900“ jedoch durch die Inszenierung Hannu Salonens. Dank der famosen Bild- und Lichtgestaltung von Kameramann Felix Cramer fasziniert das mitunter deftig-saftige Sittengemälde mit optischen Anleihen bei wesensfremden Genres wie dem Western oder dem Horrorfilm.
Diese originelle Art der Umsetzung war Salonens Idee. Der gebürtige Finne hat ab 1992 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin studiert und lebt seit vielen Jahren am Bodensee. Er hat zunächst viel für die ARD-Sonntagskrimireihen „Tatort“ und „Polizeiruf 110“ gearbeitet, in den vergangenen Jahren aber vor allem fürs ZDF gedreht, darunter die zweite Staffel der Reihe „Schuld“ nach Ferdinand von Schirach und einige Beiträge für „Die Toten vom Bodensee“ sowie vor allem die im Februar ausgestrahlte Serie „Arctic Circle“.
Ein Drehbuch, sagt Salonen, enthalte in der Regel keine Anweisungen für die Umsetzung, das sei Sache des Regisseurs. „Gute Drehbücher zeichnen sich allerdings durch eine bestimmte Tonalität aus, die mich in diesem besonderen Fall dazu inspiriert hat, gewisse Stilmittel anzuwenden.“
Bei den historischen Stoffen, die ihm bislang angeboten wurden, sei das nur ganz selten der Fall gewesen. „Meist stellten die Drehbücher in solchen Fällen eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung dar, was oft dazu führt, dass die Verfilmungen wie historische Dokumentationen aussehen, aber ein Film über die Folklore des Oktoberfestes hätte mich überhaupt nicht interessiert.“
Das Drehbuch von Ronny Schalk und Christian Limmer habe ihm die Chance eröffnet, einen Film zu drehen, der sich dank expressiver Stilmittel grundlegend von anderen Werken dieser Art unterscheide („Oktoberfest 1900“, Dienstag, 15. 9., Mittwoch, 16. und 23. 9., jeweils in Doppelfolgen ab 20 Uhr 15 im Ersten). „Im öffentlich-rechtlichen Historienfilm versteckt sich die Kamera gern, aber in ‚Oktoberfest 1900‘ steht sie bewusst im Vordergrund, sie wird zu einer weiteren Hauptfigur; und das hat natürlich auch Einfluss auf die Erzählweise.“
Auf diese Weise, hofft er, hole der Film den Zuschauer aus seiner distanzierten Beobachterposition heraus und befördert ihn mitten hinein ins Geschehen. Er wird gewissermaßen Teil der Geschichte. „Aber dann lösen wir diese Illusion unerwartet wieder auf und wechseln in eine Art göttliche Perspektive.“
Mithilfe von Bestechung und Auftragsmord bekommt er den nötigen Platz
Zwischendurch erinnert die Geschichte allerdings auch an ein Mafia-Epos im Stil von Martin Scorseses „Gangs of New York“. Dazu passt das zentrale Motiv, denn im Grunde erzählt „Oktoberfest 1900“ die Geschichte einer Rache. Curt Prank musste in jungen Jahren hilflos mit ansehen, wie sein Vater grausam erschlagen wurde.
Mit der entsprechenden Rückblende beginnt die erste Folge. Vierzig Jahre später ist aus dem Kind ein Mann geworden, der bei der Durchsetzung seiner Ziele über Leichen geht.
Prank (Mišel Matičević), ehemaliger Bordellbesitzer aus Nürnberg, hat eine Vision: Anstelle von fünf kleinen Buden will er auf der Theresienwiese eine „Bierburg“ errichten, in der 6000 Menschen Platz finden. Mithilfe von Bestechung und Auftragsmord bekommt er den nötigen Platz.
„Bier und Blut“ lautete der Arbeitstitel dieses TV-Projekts, und blutig geht es zwischendurch in der Tat zu. Hintergründig geht es jedoch auch um Rassismus. Der Mord wird Kannibalen aus Polynesien in die Schuhe geschoben. Sie sind die Attraktion des Oktoberfests im Jahr 1900.
Diese Ebene, erzählt Salonen, sei in den Büchern nur leicht angedeutet gewesen. Die Samoaner seien „erst beim Drehen und dann noch stärker im Schneideraum zu mythischen Figuren geworden, weil sie als Einzige das unmoralische Handeln der Akteure durchschauen“.
Letztlich gehe es in der Serie um den dünnen Firnis der Zivilisation und das dünne Eis unserer Moralvorstellungen. Jede Figur trete mindestens einmal auf die dunkle Seite.
Für die ARD ist „Oktoberfest 1900“ ein äußerst ungewöhnliches Projekt, was sich auch am Interesse von Netflix zeigt. Der Streamingdienst wird die Serie auf dem Weltmarkt anbieten. Umso dankbarer ist Salonen, dass er seine „für öffentlich-rechtliche Verhältnisse durchaus extravaganten Vorstellungen realisieren durfte“.