PORTRÄT: Für die Berliner ein Held
Im ARD-Film ist Ernst Reuter ein „zerrissener Mensch“. Aber war er das, der in der Berlin-Krise 1948, während der Luftbrücke, zum Staatsmann wurde?
Bei der Nachricht vom Tod Ernst Reuters am 29. September 1953 stellten die Berliner spontan brennende Kerzen in die Fenster. Hunderttausende säumten den Weg des Trauerzuges zum Zehlendorfer Waldfriedhof, und dieses Bild, das heute Abend im ARD-Film über sein Leben gezeigt wird, dokumentiert am besten die einzigartige Verbundenheit mit einem Regierenden Bürgermeister.
Sie wurzelte im Drama der sowjetischen Blockade der Westsektoren. Ernst Reuter war es, der den Berlinern im Freiheitskampf 1948/49 moralisch den Rücken stärkte und die Westmächte in dem riskanten Unternehmen Luftbrücke bestärkte. Diese Rolle, in der er vom Kommunalpolitiker zum Staatsmann wurde, kommt in dem Beitrag allerdings zu kurz, sieht man von der legendären Freiheitskundgebung am 9. September 1948 an der Westseite des Reichstagsgebäudes ab: „Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft, nicht preisgeben könnt …“
Da war Reuter „der gewählte, aber nicht amtierende Oberbürgermeister“, wie er auf seine Visitenkarten drucken ließ. Wegen des sowjetischen Vetos durfte er nicht amtieren. Stellvertretend tat es Louise Schroeder, er gab den Ton an. In dem Film wird behauptet, Reuter habe den Freiheitskampf mit der Spaltung der Stadt bezahlt. Helmut Schmidt, der wie Egon Bahr als Zeitzeuge zu Wort kommt, rückt zurecht: „Berlin war sozusagen der Knotenpunkt der Spannungen.“ Ein „zerrissenes Leben“ wird vorgestellt, nicht ungewöhnlich für einen, der 1889 geboren und in die Wirren des 20. Jahrhunderts hineingewachsen ist. Im Ersten Weltkrieg ist er russischer Kriegsgefangener, von Lenin ernannter Volkskommissar der Wolgadeutschen Republik in Saratow, ein „feuriger Bolschewik“. Wieder in Berlin, bringt er es zum KPD-Generalsekretär, löst sich von der Partei, wird ausgeschlossen, Rückkehr zur SPD. In den fünf Jahren als Verkehrsstadtrat im Berliner Magistrat ist er der Schöpfer der BVG, seit 1931 macht er sich als Oberbürgermeister von Magdeburg einen Namen. Die Nazis stecken ihn zwei Mal ins KZ. 1935 emigriert er mit Frau und Kindern in die Türkei. In Ankara ist er Regierungsberater und Professor für Städtebau und Stadtentwicklung, bis er 1946 über Hannover nach Berlin zurückkehren darf und wieder Verkehrsstadtrat wird. Das Amt als Stadtoberhaupt kann er erst in West-Berlin antreten, nach der Spaltung Ende 1948.
Der Sohn Edzard Reuter hat das Autorenteam Yury Winterberg und Jan Peter bei der Spurensuche bis nach Saratow begleitet. Der Zuschauer wird mit „Gerüchten“ konfrontiert, Reuter habe dort im Bürgerkrieg hunderte Todesurteile gefällt, Alltagsgeschäft der Volkskommissare. Ein Archivar kann mit nur einem Dokument dienen, auf dem der Name Reuter vermerkt ist; es bezeugt die Verurteilung einer Person zum Tod durch Erschießen. Nicht erwähnt werden Behauptungen der Nazis und später der sowjetischen Besatzungsmacht in Berlin, Reuter habe in Russland Gräueltaten begangen.
Mitunter sind nachgestellte Szenen und Archivbilder schwer zu unterscheiden. So rätselt man, ob der Spickzettel mit Stichworten für die Rede am Reichstag echt ist. Belangloses wird erzählt, etwa, dass Reuter in Ankara Knickerbocker trug und Fahrrad fuhr. Interessantes fällt unter den Tisch, wie schnell er Russisch und Türkisch lernte, oder ein Brief Lenins an Clara Zetkin: „Der junge Reuter ist ein brillanter und klarer Kopf, aber ein wenig zu unabhängig.“ Da sollte Lenin recht behalten.
Zu jedem Stichwort flimmern bunte Bilder, die Villa in Saratow, in der er arbeitete und wohnte, die Elbe in Magdeburg, Hannover in Trümmern, Gefechtslärm in Berlin. Nicht gezeigt wird der volkstümliche Intellektuelle, der Staatsmann mit der Baskenmütze und dem Krückstock, auch nicht seine Wirkungsstätte im Rathaus Schöneberg. Brigitte Grunert
„Ernst Reuter – Ein zerrissenes Leben“, ARD, 23 Uhr 30