Medien und Gesellschaft in Ostdeutschland: „Früher hätten Passanten eingegriffen“
Woher stammt die Wut auf ARD, ZDF & Co., die sich in Chemnitz gezeigt hat? Und: Wie kommen wir da wieder raus? Medienwissenschaftler Michael Haller im Gespräch.
Herr Haller, lassen Sie uns über den Umgang der Medien mit dem Themenkomplex Chemnitz/Pegida/Rechtsextremismus/ AfD sprechen. Da ist mir am Sonntag die „Blaue Stunde“ auf Radio Eins mit Serdar Somuncu aufgefallen. Der Moderator sprach zwei Stunden lang über Rechtsextremismus, brachte Fakten – und bat Hörer nicht um Beiträge via Hashtag oder Mail, sondern über den guten alten Leserbrief.
Meine These geht so: Vermutlich will er keine Hass- und Hetzreden via Mail, Blog und Twitter, sondern vielmehr „ausgeruhte“ Äußerungen, die entweder Erfahrungen oder Reflexionen zum Thema liefern und deren Absender auch identifizierbar sind. Wir alle lernen ja derzeit, dass sich mit dem berühmten Rückkanal, siehe Bert Brecht, nicht automatisch der öffentliche Diskurs einstellt, sondern dass viele MitbürgerInnen ihre Wut, Häme, Schimpflust und ihre Aggressionen „raushauen“ wollen.
Das kann doch eine Sendung nicht ändern.
Man kann es versuchen. Weil in der „Blauen Stunde“ oft Unbequemes und moralisch Heikles zur Sprache kommt, zudem von einem Moderator mit Migrationshintergrund, würden wohl viele Hörer die Gelegenheit nutzen, um ihren Frust und ihren Hass „kanalisiert“ abzuladen, was bekanntlich zu einer sich hochschaukelnden Wutspirale führt.
Wut ist das Stichwort. Infolge der Vorfälle und Übergriffe auch auf Reporter von Chemnitz gab und gibt es zum einen die Forderung, die Arbeit der Journalisten besser zu schützen. Zum anderen hört man von Vorhaltungen, dass unter Medienmenschen zu viel Nabelschau betrieben werde, die Maßlosigkeit der Empörung mit der Maßlosigkeit der Proteste korrespondiere. Manche wünschten sich gar etwas mehr „Coolness“ bei den Journalisten. Was sagen Sie als Journalistikprofessor dazu?
Wir beobachten derzeit auf den Straßen nicht nur in Ostdeutschland so etwas wie einen Traditionsbruch. Seit den 1970er Jahren hielt man in der Bundesrepublik die Präsenz von Journalisten bei Aktionen im öffentlichen Raum für wichtig und richtig: Das „Herstellen von Öffentlichkeit“ und „Berichten im öffentlichen Interesse“ war erwünscht, auch weil man die mediale Öffentlichkeit als Kontrolle und die Medien als machtneutrale Instanzen respektierte, auch die öffentlich-rechtlichen.
Wo ist dieser Respekt geblieben?
Diese Sicht hat sich im Laufe der vergangenen 20 Jahre, vor allem während der Phase der GroKo, markant verändert. Bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung zumal in den neuen Bundesländern verstärkte sich der Eindruck, die großen Medien berichteten „im Sinne der Bundesregierung und im Interesse der politischen wie wirtschaftlichen Eliten“. Nicht grundlos sind die Etiketten „Systempresse“ und „Mainstreammedien“ Common Sense. Das Medienmisstrauen ist mehrheitsfähig und wird in den Hetzreden der Populisten weiter verstärkt.
Deswegen muss man ja nicht auf Journalisten einschlagen.
Früher hätten Passanten in Köln, Berlin oder Hamburg eingegriffen, wenn jemand auf ein Kamerateam von ARD/ZDF tätlich losgegangen wäre. Heute schaut man vom Straßenrand aus zu. Für TV-Journalisten sind Straßenszenen heikel geworden. Eigentlich sollten Reporter „cool“ bleiben – und viele tun dies auch, ich denke an manchen Kollegen ostdeutscher Zeitungen insbesondere in Dresden, an coole Reporterinnen wie Dunja Hayali und „Frontreporter“ des MDR, die wegen ihres technischen Equipments oft Zielscheibe von Angriffen sind. Dass darüber hinaus Berichterstatter tätlich angegriffen werden, ist in Deutschland neu und sollte von der Politik mit glasklarer Eindeutigkeit kritisiert und von der Polizei unterbunden werden.
Schafft das die Polizei?
Hier scheint manche Polizeieinheit in Sachsen offenbar Probleme zu haben, was auf deren unzureichendes Rechtsstaatsverständnis schließen lässt. Es muss unstrittig gelten, dass die Sicherung der ungehinderten Informationsbeschaffung im öffentlichen Raum ein Grundpfeiler der Demokratie ist.
Sie waren 20 Jahre an der Universität Leipzig tätig und konnten die Arbeit der Kollegen vor Ort verfolgen. Ist dort in den Zeitungen und Medien genug über die Problematik mit den Rechtsextremen berichtet worden?
Es gab und gibt erhebliche Unterschiede. In der Vor-Pegida-Zeit wurde in den Infosendungen des MDR diese Thematik stark heruntergedimmt. Spektakuläre Vorgänge wurden nicht verschwiegen, aber auf singuläre Ereignisse wie Prügelei oder Brandstiftung begrenzt, ohne erklärenden Hintergrund. Ebenso verfuhren einige Tageszeitungen, in denke hier an die „Leipziger Volkszeitung“ oder die „Mitteldeutsche Zeitung“.
Welche Zeitungen waren da näher dran?
Die „Sächsische Zeitung“ und die „Freie Presse“, allerdings oft mit dem moralischen Zeigefinger. Erst als rechte Gruppen mit robusten Auftritten das öffentliche Bild prägten, wachten die Redaktionen auf. Vor allem die „Sächsische Zeitung“ bemüht sich um differenzierte Darstellungen. Beide Redaktionen versuchen, an die sich ausgegrenzt fühlenden Bevölkerungsgruppen heranzukommen. Ob dies jetzt noch gelingt, weiß ich nicht. Ein beachtlicher Teil der älteren Bevölkerung, so mein Eindruck, ist verbittert und wird nicht mehr zurückzuholen sein.
Tun diese Medien genug dafür, ihre Journalisten vor Übergriffen zu schützen?
Solange die Polizei keinen wirklichen Schutz gibt, bleiben die TV-Reporter auf Distanz und arbeiten mit Tele und Augenzeugen. Nur noch wenige Korrespondenten der überregionalen Medien sind als Solisten unterwegs. Manche tarnen ihre berufliche Identität und spielen Zuschauer. Viele Reporter der regionalen Tagespresse sind in der Szene bekannt. So wurde mir erzählt, dass es mitunter zu komischen Situationen komme, indem Protestierer und Ultrarechte vor den Fotoreportern regelrecht um deren Aufmerksamkeit buhlen, während andere gleich aggressiv werden. Allerdings haben es die Lokaljournalisten hier wie dort bis ins vorige Jahr unterlassen, zu den Brennpunkten zu gehen: zu den Treffpunkten der Ultras, in die Aufnahmelager und Unterkünfte, vor allem zu den Behörden, zu Bamf und Ausländeramt. Mir sind aus der heißen Zeit 2015 und 16 keine Berichte bekannt, die den Behördenbürokratismus und -schlendrian kritisch beobachtet oder gar recherchiert haben. Aber dies wäre ein neues Thema.
Michael Haller leitet das Europäische Institut für Journalismus- und Kommunikationsforschung (EIJK) in Leipzig. Bis zu seiner Emeritierung Ende 2010 lehrte er an der Universität Leipzig.