ARD-"Tatort": „Frauen wollen sich gruseln“
Kaum unter zehn Millionen Zuschauer: „Tatort“-Koordinator Gebhard Henke erklärt den Erfolg der Krimireihe und spricht über tote Kommissare sowie mögliche letzte Tabubrüche. Und er verrät, ob es einen Mallorca-Tatort geben wird.
Herr Henke, kaum eine „Tatort“-Folge hatte im zurückliegenden Halbjahr weniger als zehn Millionen Zuschauer. Was war an dieser Saison so besonders?
Ganz offensichtlich folgen immer mehr Zuschauer, besonders Jüngere, dem „Tatort“-Kult. Noch vor kurzem waren es einzelne „Tatorte“ wie zum Beispiel aus Münster, die Folgen mit Maria Furtwängler oder die Kölner, nun haben alle ein höheres Plateau. Besonders erstaunlich ist für mich, dass gerade die Jüngeren, die sonst sehr viel Wert auf zeitsouveränes Gucken legen, den „Tatort“ davon ausnehmen und ihn am Sonntag um 20 Uhr 15 vor allem auch in der Gruppe ansehen.
Also läuft der „Tatort“ in der Mediathek nicht so gut?
Ganz im Gegenteil: Zu den 13 Millionen Zuschauern, die die „Tatort“-Folge „Der Hammer“ aus Münster linear gesehen haben, kamen noch einmal über zwei Millionen über die Mediathek hinzu. Auch bei den Folgen mit Ulmen/Tschirner und Til Schweiger waren die Abrufe herausragend.
So ein Höhenflug kann schnell vorbei sein. Wird Ihnen als „Mister Tatort“ nicht schwindelig?
Ich bin da ganz demütig und bescheiden. Wir versuchen, gute Drehbücher zu bekommen. Wir versuchen, mit den besten Autoren und hervorragendsten Regisseure zu arbeiten, die auch international mit toller Krimiästhetik und -kultur mithalten wollen. Wir engagieren die besten Schauspielerinnen und Schauspieler. Aber um es ganz klar zu sagen: Wir bilden uns auf den Erfolg nichts ein. Dass es momentan gut läuft, ist erfreulich und spornt uns an. Aber ich werde jetzt nicht leichtsinnig und baue darauf, dass uns das so zufällt. Das ist wie überall harte Arbeit und Handwerk – und man muss sich anstrengen.
Den „Tatort“ gibt es seit 44 Jahren. Zu welchen Zeiten war er besonders erfolgreich, wann hatte er Schwächeperioden?
Tatsächlich hat der „Tatort“ vor sechs, sieben Jahren auch mal geschwächelt. Fest steht, dass Krimi derzeit generell gut geht, national wie international. Der Anteil von Krimistoffen steigt und steigt, nicht nur im Fernsehen, sondern genauso im Buchhandel. Da sind skandinavische Krimis, britische Krimis. Und wer liest das? Leserinnen. Frauen lesen die brutalsten Dinge und gruseln sich. Im Fernsehen werden selbst die Wiederholungen von Krimis geguckt wie Bolle. Das geht durch alle Bildungsschichten. Auf Krimi können sich alle verständigen. Aber ich habe kein Bestreben, andere Formen von Fiktion zu vernachlässigen und zu sagen, wir machen nun nur noch Krimi und „Tatort“.
Verführen die guten Quoten zu härteren Stoffen? Ich erinnere an den Tod der Kölner Assistentin Franziska Lüttgenjohann oder zuletzt an den lebensbedrohlichen Angriff auf Franz Leitmayr.
Das glaube ich nicht. Auch eher putzige oder kauzige Filme wie die aus Münster sind als Kriminalkomödie sehr erfolgreich. Der Trend zu härteren Stoffen hat einen anderen Grund. Es kommen verstärkt jüngere Filmemacher, Autoren und Regisseure zum Einsatz, die sich an internationalen Krimifilmen oder Kriminalliteratur orientieren, an amerikanischen oder englischen Reihen wie zum Beispiel der britischen Kultreihe „Sherlock“. Das Interesse der jüngeren Filmemacher, mehr zuzulegen und andere Filme zu machen, könnte jedoch zu einem Konflikt werden. Der „Tatort“ ist und bleibt ein Familienkrimi. Wir müssen darum für die Sendezeit 20 Uhr 15 Filme produzieren, die auch für 12-Jährige geeignet sind.
Wo sind denn die Grenzen des „Tatort“, tote Kommissare?
Zuerst einmal ist alles erlaubt. Der „Tatort“ ist ja keine Serie, sondern eine Reihe, und die kann man immer wieder auf null setzen. Anders gesagt: ein „Tatort“ fängt immer wieder neu an. Andererseits brechen wir aus diesem Raster auch immer wieder einmal aus, so zum Beispiel beim „Tatort“ aus Dortmund. Die ersten vier Folgen hatten einen übergreifenden privaten Strang um Kommissar Peter Faber mit Jörg Hartmann.
Aber müssen Sie nicht mit einem gewissen Neid verfolgen, was zum Beispiel die nordischen Krimis dürfen?
Ich sehe diese Filme auch gerne. Aber es handelt sich um härtere Krimis, die erst ab 22 Uhr gezeigt werden dürfen. Was wir mit dem „Tatort“ haben, hat einen unschätzbaren Wert.
Was halten Sie von den Event-Tatorten?
Fans und Kritiker nehmen begierig neue Teams auf, wie zum Beispiel Nora Tschirner und Christian Ulmen, die auch gerade die jungen Zuschauer sehr stark angesprochen haben. Allerdings sollten wir nicht zu viele Eintagsfliegen haben.
Viele junge Zuschauer, war das der Hauptgrund für die Event-Tatorte?
Nein. Die Event-„Tatorte“ werden gezielt an bestimmten Feiertagen gezeigt. Wir können nicht das ganze Jahr mit Erstsendungen bespielen. Im Schnitt gibt es an die 40 neue „Tatort“-Folgen inklusive der „Tatorte“ aus Österreich und der Schweiz, dazu kommen noch die „Polizeiruf 110“-Folgen.
Hat sich Heike Makatsch eigentlich inzwischen für Freiburg entschieden?
Der „Tatort“-Koordinator ist nicht in die Produktion der einzelnen Landesrundfunkanstalten eingebunden. Darum kann ich ihnen das nicht sagen.
Es fehlt nur noch ein „Tatort Mallorca“ wird mit Blick auf die Inflation an neuen Teams mitunter kritisiert. Wo sehen Sie die Grenzen?
Es gibt Grenzen des Geldes und der Vielfalt. Bürgermeister schreiben inzwischen an die Intendanten und fragen: Warum haben wir zum Beispiel keinen „Tatort“ in Bochum, Bonn oder Bielefeld? Die Städte sehen ja, wie toll das für sie ist. Aber wir können die „Tatort“-Formate natürlich nicht beliebig vermehren. Wenn jedoch ein Team aufhört, könnte man über einen neuen Ort nachdenken.
Die härteste Kritik am „Tatort“ kommt von innen. Udo Wachtveitl alias Franz Leitmayr stören schlechte Produktionen. Man dürfe mit dem Label kein Schindluder treiben, sagt er. Hat er recht?
Diese Kritik kann ich so nicht nachvollziehen. Allerdings ist es eben so, dass sich viele unserer Protagonisten öffentlich äußern. Ich nehme das zur Kenntnis.
Axel Milberg, der in Kiel Kommissar Klaus Borowski spielt, regt Tabubrüche an. Wird es demnächst einen schwarzen Kommissar geben oder einen Schwulen, wie er vorschlägt?
Ist das noch ein Tabubruch? Wir sollten grundsätzlich offen sein. Wenn sich der „Tatort“ weiter entwickelt, wird man sicherlich auch über andere Kommissarstypen nachdenken. Aber ich würde ungern das Naheliegende machen. Das wäre zu berechenbar. Wie sich der „Tatort“ entwickelt, sehen Sie an der Anlage der neuen Teams, zum Beispiel in Erfurt. Jetzt lassen wir uns überraschen, was die in Hessen oder Leipzig machen ...
... und in Berlin.
Ich glaube, dass da aufregende Sachen passieren werden. Wenn nicht, werden Sie es kritisieren und draufhauen.
Das Interview führte Kurt Sagatz.
Gebhard Henke ist Programmbereichsleiter Fernsehfilm, Kino und Serie beim WDR und „Tatort“-Koordinator der ARD.