Ulrich Tukur: "Es ist eine Reise an den Rand des Lebens"
Der neue „Tatort“-Kommissar Ulrich Tukur spricht im Tagesspiegel-Interview über erdrückende Plots, seine Kollegin Martina Gedeck und Respekt vor dem Tod.
Herr Tukur, am 29. November 1970 wurde der erste „Tatort“ ausgestrahlt. Mit welchen Gefühlen treten Sie vierzig Jahre später Ihren Dienst als hessischer LKA-Beamter Felix Murot an?
Ich hatte mal das, was man so schön als gemischte Gefühle bezeichnet. Denn wir wussten ja nicht, ob die Figur Murot, die ich gemeinsam mit dem Hessischen Rundfunk entwickelt habe, in ihrer Abgründigkeit auch wirklich lebendig würde. Jetzt ist der Film fertig und ich denke, wir haben unsere Sache sehr anständig gemacht. Es ist etwas Neues geworden. Ein melancholischer, herbstlicher Film, der trotzdem nicht schwerfällig daherkommt. Ich bin sehr gespannt, ob die Zuschauer die Reise von Felix Murot an den Rand des Lebens mitmachen.
Haben Sie unter den Ermittlern der frühen Jahre Vorbilder, etwa den bulettenverspeisenden Gentleman Hansjörg Felmy als Essener Kommissar Heinz Haferkamp oder Klaus Schwarzkopf als Kieler Kommissar Finke, über den Egon Netenjakob schrieb: „Dem aufgeklärten kleinen Mann mit dem leisen Humor ist nur aus der Art, wie er reagiert, anzumerken, dass er die deutsche Geschichte verstanden hat“?
Ich erinnere mich sehr gut an Finke und Klaus Schwarzkopf. Ich habe ihn 1984 bei Proben für Zadeks „Ghetto“-Inszenierung kennengelernt; er stieg damals leider aus, weil es ihm nicht gut ging. Seine leise Art zu spielen hatte etwas sehr Anrührendes. Ich habe keine Vorbilder, glaube aber tatsächlich, dass Murot Herrn Kommissar Finke noch am nächsten kommt.
Bei der Obduktion des Mordopfers sprechen Sie einen Glaubenssatz aus: „Es nimmt kein gutes Ende mit denen, die keinen Respekt vor den Toten haben.“ Ist das ein Anklang an Ihre zahlreichen historischen Rollen, angefangen mit Michael Verhoevens „Die weiße Rose“ über die Darstellung von Pastor Bonhoeffer bis zu Costa-Gavras’ „Der Stellvertreter“?
Der Satz stammt aus der Feder des Drehbuchautors Christian Jeltsch, ist aber mein Credo seit Jahr und Tag. Wir leben auf dem Rücken dahingegangener Geschlechter, die bei aller Kritik unseren Respekt verdienen und stehen in einer langen Kette von Ereignissen, die uns viel mehr prägen, als wir oft wahrhaben wollen. Könnte ich mich nicht in der Tiefe verorten, wäre ich als Mensch diesem sonderbaren Leben hilflos ausgeliefert. Jeder Wind der Politik und Ökonomie würde mich hin und her schleudern und am Ende umwehen.
Warum ermitteln Sie nur einmal im Jahr hessenweit, während in Frankfurt Nina Kunzendorf und Joachim Król auf das Gespann Sänger/Dellwo folgen?
Ich mag nicht öfter als einmal im Jahr in derselben Rolle auftreten. Man wird schnell beliebig und nichts ist mir unangenehmer, als den Menschen durch zu große Präsenz auf die Nerven zu gehen. Außerdem ist Herr Murot mit seiner potenziell tödlichen Erkrankung eine Kost, die man nicht zu oft zu sich nehmen sollte.
2003, in einem der ersten Fälle von Dellwo/Sänger, traten Sie in „Das Böse“ als dessen Personifizierung namens Petzold auf. War es schwierig für Sie, die Seiten zu wechseln, nachdem Sie so bravourös sinistre Charaktere darstellen?
Natürlich sind Mörder und Verbrecher in der Regel die dankbareren Rollen. Und ich habe den Ermittler auch erst dann akzeptiert, als ich freie Hand hatte, eine Figur zu entwickeln, die mindestens so interessant und widersprüchlich zu sein versprach, wie der Fall, den sie zu lösen hat.
Sie wurden im hessischen Viernheim geboren, haben an vielen Orten wie Hamburg und aktuell Venedig gelebt. Bedeutet der hessische „Tatort“ eine Heimkehr für Sie?
Nicht so wirklich. Ich habe keine Heimat im eigentlichen Sinn des Wortes. In meiner Kindheit sind wir aufgrund der Tätigkeit meines Vaters überall in deutschen Landen herumgezogen. Es gibt aber Städte und Regionen, in denen ich mich besonders wohlfühle, dazu gehört neben Hamburg und Berlin auch Frankfurt, das ja nicht durch exorbitante Schönheit besticht, aber eine ehrliche Stadt ist, die nicht mehr hermacht, als sie halten kann, eine gute Küche hat und bevölkert ist von angenehmen, offenen Menschen.
Seit Ihrem Studium in Tübingen sind Sie mit Ihrer Band „Ulrich Tukur und die Rhythmus-Boys“ unterwegs und lassen die Schlager- und Tanzmusik der 30er Jahre wiederaufleben. Im neuen „Tatort“ klingt Lale Andersens „Wie einst Lili Marleen“ mehrfach an, und auch Murot wirkt wie aus der Zeit gefallen. Inwieweit konnten Sie Einfluss auf das Drehbuch nehmen?
Ich habe sehr viel von mir in die Figur Murot einfließen lassen. Ich war immer ein „asynchroner“ Mensch, das heißt, die Zeit, in die ich hineingeboren wurde, war nie die meine, ich habe immer von meinen Gegenentwürfen gelebt. Murot passiert etwas Merkwürdiges im Moment der potenziell tödlichen Diagnose Gehirntumor: Er erschrickt zutiefst und gerät in eine Art parallele Welt, in der nichts mehr so ist, wie es zu sein scheint. Zwar schauen die Dinge zunächst alltäglich aus, sind es aber nicht.
Wie äußert sich das?
Sein Auto ist kein Auto, sondern eine charmante Ingenieursidee, die nie wirklich funktioniert hat: ein Ro 80. Der See, an dem er recherchiert, ist ein abgelassener Stausee, der eine Landschaft freigibt, die nicht in Nordhessen, sondern irgendwo in außereuropäischen Bereichen liegt, seine Sekretärin könnte die Vorzimmerdame einer Kanzlei von 1939 sein, er selbst kommt daher wie ein etwas abgerissener Charakter aus einem Nouvelle-Vague-Film. Christian Jeltsch hat alle diese Ideen in seinem Drehbuch ganz wunderbar umgesetzt. Und der Regisseur Achim von Borries hat mit Kameramann Bernd Fischer großartige Bilder geschaffen.
In den letzten „Tatort“-Jahren ist zu beobachten, dass das Privatleben der Kommissare den Plot zu erdrücken droht. Ist Ihr Kommissar auch deshalb Junggeselle?
Mich interessiert kein aufgesetzt gescheitertes Privatleben. Das menschelt viel zu absichtlich. Verwerfungen der Vergangenheit, wenn sie leise und kaum spürbar mitschwingen, können einem Charakter eine viel schönere Fallhöhe geben.
„Wie einst Lilly“ steht in der Tradition von Fällen wie zuletzt „Schlafende Hunde“ von Radio Bremen, in der die Stasi wieder Thema war, hier ist es die RAF. Hat Sie die Zusammenarbeit mit Martina Gedeck als verdächtige Pensionswirtin an Ihre gemeinsamen Dreharbeiten bei „Das Leben der Anderen“ erinnert?
Ich war sehr froh, dass Martina diese Rolle spielte, und sie hat sie ganz hervorragend gemeistert. Seltsamerweise gibt uns die politische Wirklichkeit mit dem Fall Verena Becker eine überraschende Aktualität. Es ist ein anders gelagerter Fall, aber es gibt durchaus Berührungspunkte. Schuld, die nie verhandelt wird, schlägt irgendwann zurück. Und die Sprachlosigkeit zerstört die Seelen.
„Wie einst Lilly“ ist der 781. Fall der Reihe. Wie sehen Sie die Zukunft des „Tatorts“? Und wie geht es weiter mit Felix Murot?
Der „Tatort“ lebt seit vierzig Jahren. Er ist immer mit der Zeit gegangen und hat eine starke regionale Anbindung, die ihn sehr robust macht. Also hält er bestimmt noch eine Weile durch. Murot lebt einstweilen weiter und wird im nächsten Frühjahr einen unerhörten Fall lösen und in eine ganz und gar groteske Welt eintauchen. Die Besetzung wird ein Knaller.
Das Gespräch führte Katrin Hillgruber.
„Tatort: Wie einst Lilly“, 20 Uhr 15, ARD
Ulrich Tukur, geboren 1957 in Viernheim, studierte in Tübingen Germanistik, Anglistik und Geschichte und arbeitete als Musiker. Dabei wurde er für die Bühne entdeckt. Noch während seiner Schauspielausbildung drehte er „Die weiße Rose“. Peter Zadek holte Tukur an die Berliner Volksbühne, wo er im Stück „Ghetto“ brillierte. Auch später arbeiteten die beiden Künstler erfolgreich zusammen. Für seine Leistungen wurde Tukur mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Filmpreis, den er auch für seine Rolle in dem Oscar-preisgekrönten Film „Das Leben der Anderen“ erhielt. Mit seiner Frau Katharina John lebt Tukur in Italien. sop
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