WM 2018: Von Tor zu Tor: Erst kommt der Fußball, dann die Moral
Sich der WM verweigern, den Fernseher ausgeschaltet lassen, weil man ein wahrer Fußball-Fan ist? Nein, ich will die Spiele, will die Floskeln der Experten, hält unser Kolumnist entgegen.
Als vor der WM die vielen Fußball-kritischen Bücher veröffentlicht wurden, Bücher wie „Ersatzspielfelder“ oder „Das wunde Leder“, hatte ich nach der Lektüre wirklich kurz überlegt, die Fußball-Fernseh-WM ausfallen zu lassen.
Dieser ganze Kommerz, diese Korruption, diese Gehirnwäsche, diese Fifa-Verbrecher! Um so, durchaus widerwillig, dem stets engagierten, tapferen Schriftsteller Ilija Trojanow zu folgen, der in einem dieser Bücher ein seltsames „Manifest“ mitverfasst hatte, endend mit dem Appell: „Schauen wir kein einziges Match an! Wir sind keine Quotenbringer, keine dummen Schafe, keine dumpfen Konsumenten – wir sind wahre Fußballfans!“.
Nun frage ich mich: Bin ich ein wahrer Fußballfan? Will ich das überhaupt sein? Denn ich muss gestehen: Gerade läuft Frankreich gegen Australien, lausche ich der Analyse von Jochen Breyer und Christoph Kramer (die Öffentlich-Rechtlichen scheinen sich auf eine bestimmte, betont berufsjugendliche, männliche Alterskohorte von Mitte 30 bis Ende 40 als Moderatorenteams geeinigt zu haben), bereite ich mich auf die Argentinier vor.
Und natürlich habe ich das Eröffnungsspiel gesehen und den ganzen Freitag von mittags an, und es war: großartig. Nicht nur Portugal-Spanien, auch die gesamte Match-Ödnis davor. Denn wer bin ich, mich über Fußball spielende Perser, Ägypter oder Russen und insbesondere über ihre Fans zu erheben?
Und die Dumpfheit, von der Trojanow spricht, könnte man auch Kontemplation nennen, und da will ich nicht, dass die Dumpfheit, wahlweise: Kontemplation mit Ironie konterkariert wird, so wie das die berufsjugendlichen Experten inzwischen versuchen („Du hast tapfer durchgehalten“, Bommes zu Hitzlsperger).
Nein, ich will Floskeln wie „Dieses Tor hat das Spiel auf den Kopf gestellt“ oder „Die Iraner können das Spiel jetzt ausgeglichen gestalten“. Ich will verunglückte Formulierungen wie die von Steffen Simon beim Spiel der „Urus“ gegen die Ägypter. „Dem Niveau des Spiels geht es gerade nicht gut.“ Ach, vielleicht ist das dem Niveau grundsätzlich ziemlich egal. Hauptsache dem Ball geht es gut, der Eckfahne, dem Rasen – und mir gerade auch.