Talkshows 2016: Entschleiern bleibt Pflicht
„Krise“, „Angst“, „Abgrund“: Das Jahr 2016 fand seinen Widerhall in den Talkshows. Und dann trat Nora Illi bei „Anne Will“ auf.
Wolfgang Bosbach ist entthront. Der CDU-Politiker, der von 2013 bis 2015 stets am häufigsten in den deutschen Politik-Talkshows anzutreffen war, ist 2016 von Sahra Wagenknecht (Linke) abgelöst worden. Bosbach ist der verlässliche Mainstream-Allrounder, der populäre Widerborst der Kanzlerin. Ist der Wachwechsel an der Spitze des Gäste-Rankings auch ein Fingerzeig auf einen Atmosphärenwechsel im Land? Und wie haben sich die Polittalks insgesamt der Großwetterlage angenommen?
Das Jahr 2016 war vor allem durch die Themen Flüchtlinge, Terror, Populismus, Türkei und Merkel bestimmt, alles floss und schoss unter der Schlagzeile „Krise“ zusammen. In den Titeln der Sendungen von „Anne Will“, „Maischberger“, „Hart aber fair“ und „maybrit illner“ tauchen verlässlich Begriffe wie „Abgrund“, „Krise“ und „Angst“ auf und häufig spitzten die Sendetitel Stimmungen alarmistisch zu, wie „Verliert die Demokratie?“ (Maischberger), „Ist der Staat dem Terror gewachsen?“ („Anne Will“) oder „Wie verändert die Angst das Land?“ („Hart aber fair“).
Diese Tendenz zur begrifflichen Eskalation findet sich auch in anderen Segmenten der Sendungen wieder: Den Einspielern, der Musik, den Hintergrundbildern, dem polarisierenden Design der Fragen: Jetzt ist Drama! Nicht selten hatte man das Gefühl, die Politiktalks fungierten nicht als diskursive Abklingbecken und Analyseforen, sondern als dialogische Durchlauferhitzer, in denen rhetorisch versierte Populisten (Söder, Wagenknecht) im Vorteil waren, weil ihre Art zu sprechen sich mit der Funktionslogik der Medien trifft: Schnell soll es sein, griffig, verständlich, emotional.
Das Paradoxe am aufgeheizten Talkshowjahr 2016 war, dass die populistische AfD davon nur indirekt profitieren konnte: Frauke Petry, Beatrix von Storch oder Alexander Gauland, allesamt keine überzeugenden Rhetoriker, waren zwar oft zu Gast, punkteten aber vor allem dann, wenn die Vertreter der etablierten Parteien sie „auseinanderzunehmen“ versuchten und dabei in der Aggressions- und Arroganzfalle landeten; das weckte beim Publikum eher Empathie für die Abgekanzelten.
Im Rückblick lohnt es, bei einer Sendung besonders zu verweilen, die zu Unrecht skandalisiert wurde. Das Innehalten lohnt auch deshalb, weil die Reaktionen auf die „Anne Will“-Sendung vom 6. November „Mein Leben für Allah – Warum radikalisieren sich immer mehr junge Menschen?“ möglicherweise ein trübes Licht auf die Talks und ihre Resonanzen im Wahljahr 2017 werfen.
Warb Illi für den Krieg? Nein!
In dieser Sendung trat die vollverschleierte Nora Illi auf und provozierte mit fragwürdigen Thesen. Illi, die Frauenbeauftragte des Islamischen Zentralrates Schweiz, brachte so viel Verständnis für radikalisierte junge Menschen auf, die nach Syrien ziehen, dass man den Eindruck gewann, sie vergliche den dortigen Krieg mit einer Art reinigendem Klosteraufenthalt, Krieg als Bewährungsprobe, als „bitter harte Langzeitprüfung“, wie es in einem Einspieler hieß. Warb Illi für den Krieg? Nein! Warb sie für den IS? Nein! Konnte sie Propaganda für sich selbst und ihren Lebensweg betreiben? Nein! Soll man Niqab-Trägerinnen wie sie in Talkshows einladen? Ja! Und soll man brisante Zitate einblenden? Ja!
Und warum? Das Zitieren ist eine völlig geläufige und legitime Praxis, wenn man jemanden entlarven will, wichtig dabei ist, wie man es macht. Das umstrittene Zitat wurde mehrfach kritisch hinterfragt von der Moderatorin Anne Will selbst und scharf attackiert von den übrigen Gästen, dem Psychologen Ahmad Mansour und Wolfgang Bosbach.
Die Aussagen Illis wurden durch die Studioregie aber auch mit dem Gesichtsausdruck von Sascha Mané konfrontiert, ein Vater, dessen Tochter sich radikalisiert hat und in Syrien untergetaucht ist. Die krude Programmatik von Nora Illi wurde durch das bekümmerte und verärgerte Gesicht des Vaters am entschiedensten überhaupt verurteilt.
Das Fernsehen liebt den lesbaren Körper, die Talkshows insgesamt leben davon, dass Gesichter entgleisen, dass der Zuschauer die Chance hat, Habitus und Haltung zu überprüfen: Wo weist die Tele-Fassade Risse auf, wo grinst einer, wenn es besser wäre, ernst zu schauen, wo wirkt jemand nicht authentisch?
Das emanzipative Selbstbestimmungsvokabular, das Illi benutzte, wirkte pervertiert, entwertet durch den schwarzen Niqab, den der Zuschauer als Bevormundung erlebte, als Einschränkung seiner Betrachtungs- und Meinungsbildungsfreiheit. In anderen Kontexten ist der Niqab ein kulturelles Bekleidungsstück, ein politisches oder religiöses Symbol, in einer öffentlich-rechtlichen Talkshow wirkt er unheimlich, er strahlt eine feindselige, kommunikationsabweisende Aura aus.
Ein Bild vom Bild- und Körperverlust
Der Niqab wirkte wie ein Individualitäts- und Identitätslöscher und bestritt alles, was Frau Illi sagte. Auch deshalb war es richtig, sie einzuladen. Würde man beschließen, Niqab- oder Burka-Trägerinnen nicht in Talkshows zuzulassen, würde man sich damit selbst verschleiern und dem Zuschauer die Chance stehlen, sich selbst ein Bild vom Bild- und Körperverlust zu machen.
Die Sendung war auch deshalb aufschlussreich, weil die anderen Muslime sehr unterschiedliche Islamverständnisse zeigten und sich ganz konstruktiv an einem selbstkritischen Dialog versuchten. Man verstand auch durch einige Selbstbeschreibungen von Ahmad Mansour besser, warum Jugendliche für radikale Seelenfänger und ihre Weltbilder anfällig sind.
Die meiste Redezeit bekam übrigens gleich zu Anfang der Sendung Sascha Mané zugestanden, der in sehr berührender Weise von seiner Tochter sprach. Spannend war diese Sendung auch, weil da außer der Konvertitin Illi drei Muslime saßen, drei Männer, die allein schon durch ihre sehr unterschiedlichen Körperbilder und ihre verschiedenen Sprachniveaus die Vielgesichtigkeit des Islam in Deutschland aufzeigten. Diese Präsenzvielfalt wirkte Klischees entgegen, der Islam sei ein kollektiver Bedrohungskörper, eine formierte Masse.
Sicher: Nora Illi hätte man noch deutlicher als Vertreterin einer wenig bedeutsamen, aber fundamentalistischen Splittergruppe kennzeichnen müssen und die Sendung wäre vermutlich noch stärker gewesen, wenn statt Bosbach ein weiterer muslimischer Gast den islamischen Pluralismus präsentiert hätte. Man muss und soll die öffentlich-rechtlichen Politiktalks profund kritisieren, doch die reflexhafte Brutalo-Art, wie diese doch sehr sehenswerte „Anne Will“-Sendung angegangen wurde, hat jedes Augenmaß verloren.
Das festzuhalten bleibt wichtig, denn den Polittalks kommt im Superwahljahr 2017 eine wichtige Aufgabe zu: Sie müssen den politischen Diskurs enthysterisieren, Sprechweisen der Angst analysieren und die Populisten und Phrasen in allen Parteien entschleiern. Zudem sollten die Sendungen versuchen, den eigenen rhetorischen Eskalationstendenzen zu widerstehen. Mehr Experimente, innovative Dramaturgien, neue Gäste, Komplexität und Vernunft wagen! Nicht Lautstärke macht Quote, sondern Horizonterweiterung.
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