Arte-Serie "Zimmer 108": Eine Tote sucht ihren Mörder
Die belgische Mystery-Serie "Zimmer 108" bei Arte startet bizarr - und porträtiert zugleich eine Region, die um ihren Platz im globalisierten Europa ringt.
Es ist eine jener Alltagssituationen, in die keine Frau, kein Mann, eigentlich niemand geraten will: aufzuwachen in einem fremden Bett, angezogen zwar, aber ohne jede Erinnerung an die Nacht zuvor und zudem spürbar verletzt. Vergewaltigung – das scheint auch Kato durch den Kopf zu schießen, als sich die junge Frau mutterseelenallein auf einem blutbefleckten Laken wiederfindet. Kaum vorstellbar, dass es schlimmer kommen könnte. Doch es kommt schlimmer. Denn bei der Suche nach dem Grund ihres unfreiwilligen Aufenthaltsortes findet die Belgierin eine Leiche in der Badewanne: sich selbst! So bizarr, so irre ist die Ausgangslage der fabelhaften belgischen Mysteryserie „Zimmer 108“.
Sie ist betitelt nach dem Raum von Katos Erwachen in einem wallonischen Provinzhotel namens „Beau Séjour“, wie der Zehnteiler auf Arte im belgischen Original heißt. Von hier aus bricht die lebende Leiche auf, um in der öden deprimierenden Kleinstadt Limbourg den Mord an sich selbst aufzuklären. Dabei ist sie umringt von ein paar Menschen, die Kato sehen können, und der überwiegenden Mehrheit jener, die durch sie hindurchblicken, als wäre sie Luft, was sie ja irgendwie ist und auch wieder nicht.
Fürs Opfer macht es die Suche dabei nicht leichter, dass zur ersten Kategorie Zeitgenossen ihr Vater gehört und zur zweiten ihre Mutter. Angesichts dieser Konstellation muss man sich nur mal vorstellen, rein hypothetisch und ganz kurz, jemand wäre in Deutschland auf die äußerst unwahrscheinliche Idee gekommen, solch einen außergewöhnlichen Stoff zu entwickeln.
Diese Person hätte dann, zweitens, sogar Geldgeber gefunden, um das Ganze zu realisieren. Und anschließend auch noch eine Produktionsfirma, die es fortan mit Leben füllt: Der Handlungsort wäre vermutlich Berlin gewesen oder was visuell Ansehnliches à la Ostsee, Alpen, Touristenregionen halt. Und das Personal? Höchst attraktiv, möglichst populär, Jürgen Vogel und Heike Makatsch wären toll, aber wohl zu teuer.
Pickel und Problemzonen
Das Nachwuchstalent Lynn van Royen hingegen ist als Zombie ohne Appetit auf Gehirne zwar hintergründig hübsch. Für ein TV-Produkt auf ARD/ZDF wäre sie aber viel zu burschikos. Überhaupt sind sämtliche Figuren normale Alltagsfiguren mit Pickeln und Problemzonen statt telegene Platzhalter dramaturgisch verwertbarer Klischees. Und die Region, in der sie alle agieren, ist von solcher Ödnis, dass man dort nicht tot überm Zaun hängen mag.
Genau das aber gibt der Geschichte von Nathalie Basteyns und Kaat Beels, die beide auch am Drehbuch beteiligt waren, jenes Flair, das Kameramann Anton Mertens trotz des weiten Lands klaustrophobisch in Szene setzt. So morbide die Atmosphäre auch ist und so kriminalistisch der Inhalt – „Zimmer 108“ will mehr als das übliche Whodunit sein.
Als Sittenporträt einer abgehängten Region, die zwischen Tradition und Fatalismus, Schützenfest und häuslicher Gewalt um ihren Platz im globalisierten Europa ringt, schert sich die Serie spürbar um ihr Personal – selbst wenn es wie Kato erst nach dem Tod zu Leben erwacht. Gewiss, es gibt ein paar Ungereimtheiten. Warum Katos Mutter die Umarmung ihrer Tochter zum Beispiel nicht bemerkt, während dieser Geist andernorts allerlei Irdisches in Bewegung setzen kann. Doch wenn der unsichtbare Teenager beim Motocross-Rennen eine Polizeipistole abfeuert, um an der Reaktion Umstehender zu erkennen, wer den Schuss gehört hat und wer nicht, wird dieser Logikbruch wenigstens konsequent fortgesetzt.
Trotz mancher Längen und zweier eher blasser Stadtermittlerinnen im Landeinsatz ist „Zimmer 108“ daher absolut sehenswert. Nach dem dänischen Drama „Die Erbschaft“ und vorm Komödienimport „Helden am Herd“ ab Mai ist es aber auch ein weiterer Beleg, dass gute Serien ohne skandinavischen Zwang zum Gewaltexzess auf Arte laufen.
„Zimmer 108“, Donnerstag, Arte, 20 Uhr 15, Start von fünf Doppelfolgen
Jan Freitag
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