Leistungsschutzrecht: „Eine Frage von Leben und Tod“
Journalisten fordern von EU-Parlamentariern Schutz vor den Netzgiganten. Es geht um die Frage, wer die Früchte der Arbeit von Journalisten erntet.
Sammy Ketz ist ein enorm erfahrener Reporter. Er war im Maghreb im Einsatz, im Nahen und Mittleren Osten, er hat aus Kriegs- und Krisenregionen berichtet, im Irakkrieg wie im Bürgerkrieg in Syrien sein Leben riskiert. Derzeit leitet Ketz das Büro von Agence France Press (AFP) in Bagdad. 2017 gelang ihm eins der seltenen Interviews mit dem syrischen Machthaber Baschar al Assad. Courage und Integrität zeichnen Ketz aus, Handwerk und Wissen.
Jetzt hat der Reporter einen Offenen Brief an die Parlamentarier der Europäischen Union geschrieben. Und es ist ein Brandbrief. Doch sein Thema scheint bürokratisch, juristisch, trocken. Es wirkt Galaxien entfernt von der Wirklichkeit, in der Ketz und Kollegen sich vor Scharfschützen oder Granatsplittern in Acht nehmen müssen, wo sie neben Laptop und Kamera schwere kugelsichere Westen im Gepäck mitschleppen.
In dem Brief von Ketz an die „lieben EU-Parlamentarier“ geht es um sogenannte Leistungsschutzrechte, vereinfacht gesagt um Richtlinien zum Copyright. Es geht darum, wer die Früchte der Arbeit von Journalisten erntet und wie das geschieht. Am 12. September stimmt das EU-Parlament in Straßburg über neue Brüsseler Richtlinien zu diesem Leistungsschutzrecht ab. Im Kern soll es möglich werden, dass News-Aggregatoren wie Google, Facebook oder Youtube die Inhalte, die immateriellen Güter, die von Medienverlagen und deren Mitarbeitern erwirtschaftet werden, nicht mehr millionenfach verbreiten können, ohne dafür einen Cent zu bezahlen.
Der Brandbrief von Ketz, den bis Montag 103 Journalisten aus 27 Nationen unterschrieben hatten, darunter Mitarbeiter von „Le Monde“, „The Guardian", "El Pais", „Le Figaro“, dem „Corriere della Sera“, „Spiegel“, "New York Times", "Guardian", "Zeit" und RTL, fordert die Parlamentarier zu einem klaren Ja zu der neuen Richtlinie auf. Dies sei, schreibt Ketz, „eine Frage von Leben und Tod“. Es hört sich an, als berichte er von einem anderen Kriegsschauplatz.
Und so ist es. Die Netzriesen saugen die Redaktionen systematisch aus. Schwer erarbeitete, teure redaktionelle Inhalte wie die Berichte der Kriegsreporter kommen ins Internet, Konsumenten bedienen sich gratis, die Netzriesen kassieren Werbeeinnahmen durch Anzeigen im Flimmerumfeld an den Rändern der Berichte und die Medien verlieren: Einkommen, Auflagen, Angestellte, Mittel für Recherchen, Produktion und Druck.
„So viele Freunde haben aufgehört, als Journalist zu arbeiten"
Sammy Ketz schreibt: „So viele Freunde haben aufgehört, als Journalist zu arbeiten, weil ihre Medienunternehmen geschlossen wurden oder sie sie nicht mehr bezahlen konnten.“ In mehr als 40 Jahren als Reporter habe er gesehen, dass die Zahl der Journalisten vor Ort stetig abnahm, „während die Gefahren unerbittlich zunehmen. Wir sind Ziele geworden und unsere Berichterstattung kostet mehr und mehr“. Allein Google hält mit 95 Prozent Marktanteil an der Verbreitung von Inhalten ein quasi globales Monopol.
Schon der SPD-Politiker Martin Schulz hatte, noch als EU-Präsident, vor den totalitären Gefahren der Netzwirtschaft gewarnt, damals sekundiert von seinem Parteikollegen Sigmar Gabriel, der Ideen zur Zerschlagung der Netzriesen entwickelt, jedoch nicht verfolgt hatte. Als 2013 ein deutsches Leistungsschutzgesetz entstand, traten FDP und Piraten als konkurrierende Anwälte der Netzfreiheit auf.
Dass diese vor allem die Freiheit für Milliardenprofiteure der Netzkonzerne bedeutet, störte da nicht, und Google setzte die Verlage unter Druck: Entweder sie beugen sich den Google-Praktiken oder ihre Inhalte tauchen bei Google nicht mehr auf. Da hätten alle Verlage solidarisch und hart bleiben müssen – doch das gab der Markt nicht her. In der Folge wurden EU-Parlamentarier von Adepten des freien Netzes nachgerade beschossen mit Abertausenden von E-Mails und Tweets, inspiriert etwa von der „Initiative gegen ein Leistungsschutzrecht“, kurz Igel.„Heckenschützen-Lobbyismus“ nennt das Jan Hegemann, Urheberrechtler der Kanzlei Raue in Berlin, der Verleger im Ringen mit Google & Co vertritt. Den Vorschlag für die neue EU-Richtlinie hält auch er für „sehr vernünftig“.
Sammy Ketz versichert den EU-Parlamentariern, der freie Zugang zum Internet werde bestehen bleiben, „da die Internetgiganten, die derzeit redaktionelle Inhalte kostenlos nutzen, die Medien entschädigen können, ohne die Verbraucher zu bitten, dafür zu zahlen“. Facebook, hält Ketz hier vor Augen, hat 2017 allein 16 Milliarden, Google 12,7 Milliarden US-Dollar an Gewinnen eingestrichen: „Sie müssen einfach ihre Schulden bezahlen. Auf diese Weise werden die Medien überleben und die Internet-Titanen werden zur Vielfalt und Pressefreiheit beitragen, die sie zu unterstützen behaupten.“
In einer früheren Version des Textes hieß es, "Google-News" halte ein Monopol an der Verbreitung von Inhalten. Es handelt sich tatsächlich um "Google". Wir haben den Fehler korrigiert.
Offener Brief von Sammy Ketz
Offener Brief von Sammy Ketz, Büroleiter Agence France Press, Bagdad
Leistungsschutzrechte : eine Frage von Leben und Tod Liebe EU-Parlamentarier,
Ich war auf einer Reportage-Reise in Mossul, der ehemaligen IS-Hochburg im Nordirak, um über Kinder zu schreiben, die zu einer Schule zurückkehrten, die drei Jahre lang von den Dschihadisten geschlossen worden war. Ich dachte darüber nach, wie ich die Freude dieser Kinder am besten beschreiben könnte, wenn sie nach langer Zeit des Verbots an ihre Schultische in der zerstörten Stadt zurückkehrten.
Während ich mit einem Fotografen, einem Videojournalisten und dem AFP-Fahrer in einem Restaurant saß, bevor ich nach Bagdad zurückkehrte, las ich auf meinem Laptop einen Artikel über die europäische Debatte über Leistungsschutzrechte und den Plan, sie auf die Presse anzuwenden. Es erregte meine Aufmerksamkeit, war aber kein Schock für mich.
Nach fünf Jahren, in denen ich das kriegserschütterte Syrien durchquert hatte, wo ich bei etlichen Gelegenheiten knapp dem Tod durch die Kugeln eines Scharfschützen oder Granatsplitter entgangen war, war ich gerade zum dritten Mal seit der US-Invasion 2003 im Irak angekommen.
In mehr als 40 Jahren als Reporter habe ich gesehen, dass die Zahl der Journalisten vor Ort stetig abnimmt, während die Gefahren unerbittlich zunehmen. Wir sind Ziele geworden und unsere Berichterstattung kostet mehr und mehr. Vorbei sind die Zeiten, in denen ich in einer Jacke, in Hemdsärmeln, mit einem Personalausweis in der Tasche, neben einem Fotografen oder Videojournalisten vor Ort über einen Krieg berichten konnte. Jetzt brauchst du kugelsichere Jacken, gepanzerte Autos, manchmal Bodyguards und Versicherungen. Wer bezahlt diese Kosten? Die Medien, und es ist ein hoher Preis.
Doch obwohl sie für den Inhalt bezahlen und Journalisten entsenden, die ihr Leben riskieren, um ein zuverlässiges, vollständiges, vertrauenswürdiges und vielfältiges Nachrichtenangebot zu produzieren, sind es nicht sie, die die Profite einstreichen, sondern die Internetplattformen, die sich daran bedienen, ohne einen Cent zu zahlen. Es ist so, als ob ein Fremder kommen und sich schamlos die Früchte deiner Arbeit schnappen würde. Es ist moralisch und demokratisch nicht zu rechtfertigen.
So viele Freunde haben aufgehört als Journalist zu arbeiten, weil ihre Medienunternehmen geschlossen wurden oder sie sie nicht mehr bezahlen konnte. Bis zu dem Tag, an dem sie ihre Stifte und Kameras wegräumten, hatten wir die schreckliche Angst geteilt, die uns erfasste, wenn wir uns hinter einer Mauer versteckten, die so stark von den Explosionen erschüttert wurde wie wir; die unbeschreibliche Freude geteilt, wenn wir erfolgreich der Welt die "Wahrheit" erzählen konnten, die wir mit unseren eigenen Augen gesehen hatten; die außergewöhnlichen Treffen mit Warlords und ihren schwer bewaffneten Männern, die lächelten, während sie mit ihren Pistolen oder Dolchen spielten und zusahen, wie wir ihre Bosse interviewten; das schmerzliche Leid angesichts der verstörten, eingeschlossenen Zivilisten, die Frauen, die unbeholfen ihre Kinder zu schützen versuchten, während Kugeln an den Wänden des Unterschlupfs vorbeischrammten, in dem sie für kurze Zeit Zuflucht gefunden hatten.
Die Medien haben lange gelitten, bevor sie reagierten und dann eher gegen die Folgen als gegen die Ursache kämpften. Aus Geldmangel haben sie fast bis zur Schwelle der Absurdität Mitarbeiter entlassen: Zeitungen, die kaum noch mit Journalisten besetzt sind. Jetzt fordern sie, dass ihre Rechte respektiert werden, damit sie weiterhin über wichtige Ereignisse berichten können. Sie verlangen, dass die Verkaufserlöse mit denen geteilt werden, die die Inhalte produzieren, ob es sich um Medien oder Künstler handelt.
Das ist die Bedeutung von Urheber- und Leistungsschutzrechten. Wir können die von Google und Facebook verbreitete Lüge nicht länger schlucken, dass eine Richtlinie zu Leistungsschutzrechten die Möglichkeiten der Menschen, kostenlos ins Internet zu gehen, gefährden würde. Nein. Der freie Zugang zum Internet wird bestehen bleiben, da die Internetgiganten, die derzeit redaktionelle Inhalte kostenlos nutzen, die Medien entschädigen können, ohne die Verbraucher zu bitten, dafür zu zahlen.
Schwer? Unmöglich? Ganz und gar nicht. Facebook erzielte 2017 einen Gewinn von 16 Milliarden US-Dollar und Google von 12,7 Milliarden US-Dollar. Sie müssen einfach ihre Schulden bezahlen. Auf diese Weise werden die Medien überleben und die Internet-Titanen werden zur Vielfalt und Pressefreiheit beitragen, die sie zu unterstützen behaupten.
Ich bin überzeugt davon, dass die Abgeordneten, die durch irreführende Lobbyarbeit getäuscht wurden, jetzt verstehen, dass der kostenfreie Zugang zum Internet nicht gefährdet ist. Auf dem Spiel steht die Pressefreiheit, denn wenn den Zeitungen die Journalisten ausgehen, wird die Freiheit, die von Abgeordneten aller politischen Parteien unterstützt wird, verschwunden sein.
Unzählige Male war ich von Angesicht zu Angesicht mit eingeschlossenen, isolierten, wehrlosen Menschen konfrontiert, die nur um eines baten: "Erzähle den Leuten, was du gesehen hast. So haben wir eine Chance gerettet zu werden." Soll ich antworten: "Nein, habe keine Hoffnung. Wir sind die letzten Journalisten. Bald wird es keine mehr geben, weil wir aus Mangel an Geld verschwinden"? Denken Sie daran, dass Facebook und Google keine Journalisten beschäftigen und keine redaktionellen Inhalte produzieren. Aber sie werden für die Werbung bezahlt, die mit Inhalten verbunden ist, die Journalisten produziert haben.
Jeden Tag untersuchen Journalisten alle Aspekte des Lebens, um ihre Mitbürger zu informieren. Jedes Jahr werden Preise an die mutigsten, unerschrockensten und talentiertesten Journalisten vergeben. Wir können nicht zulassen, dass die Medien ihrer rechtmäßigen Einnahmen beraubt werden, um eines Tages keine Preise mehr vergeben zu können, da es an Kandidaten mangelt, die noch von vor Ort berichten können.
Es ist Zeit zu handeln. Das Europäische Parlament muss mit überwältigender Mehrheit für die Leistungsschutzrechte und damit für das Überleben der Demokratie und eines ihrer bemerkenswertesten Symbole stimmen: den Journalismus.
Caroline Fetscher
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