ICE-Unglück: Ein Trauma wird verfilmt
Die ARD zeigt eine Doku-Fiction über das ICE-Unglück von Eschede. Von der Deutschen Bahn wollte sich in dem Film niemand äußern.
Es war das schwerste Unglück in der Geschichte der Deutschen Bahn, sogar aller Hochgeschwindigkeitszüge weltweit. Am 3. Juni 1998 entgleist zwischen Hannover und Hamburg, auf der Höhe des Heidestädtchens Eschede, bei 200 Stundenkilometern der ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ mit zwölf Waggons. Grund ist ein defekter Radreifen. Der Zug schleudert gegen eine Brücke, die einstürzt und einen Waggon unter ihrem tonnenschweren Gewicht begräbt. Die nachfolgenden Wagen schieben sich im Zickzack zusammen, manche türmen sich zehn Meter hoch oder werden von Betonteilen zerquetscht. In diesem Knäuel aus Glas, Stahl und Beton sterben 101 der 220 Reisenden, 105 werden verletzt. Rund 1200 Ärzte, Sanitäter, Soldaten, Feuerwehrleute, Anwohner und Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks sind ununterbrochen im Einsatz. Die Arbeit, die sie über Tage inmitten verstümmelter Leichen leisten, ist fast übermenschlich.
Ihnen und den Angehörigen der Opfer ist der Film „Eschede Zug 884“ gewidmet, den der NDR zum zehnten Jahrestag des Unglücks unter der Regie von Raymond Ley produziert hat. Es ist ein erschütternder Film, der unter Verwendung von Dokumentar-, Spiel- und Tricksequenzen die Katastrophenfahrt von München bis Eschede nacherzählt. Zu Wort kommen ein Lehrer, dessen Frau zwei Sitze entfernt von ihm stirbt, ein Lkw-Fahrer, der unverletzt aus dem ersten, nahezu unbeschädigten Wagen steigt und an der Unfallstelle den Anruf einer TV-Produktion erhält, und Hinterbliebene, die zu Hause oder während der Arbeit von dem Unglück erfahren. So wie der Unternehmensberater Jens Hager van der Laan, der sich sofort in einen Zug nach Eschede setzt („Das war die schlimmste Fahrt meines Lebens“) und nach zwei Tagen dort und dem Abgleich von DNA-Analysen weiß, dass seine Frau und seine zwei Kinder tot sind. Ein weinender Bestattungsunternehmer bittet ihn, nicht in die Särge zu schauen.
All das zeigt die szenische Dokumentation zum Glück nicht, sondern vertraut ganz auf die Erzählweise der Protagonisten und kommt dabei sogar ohne Tränen aus. Gezeigt werden hingegen ein abgerissenes Bein, Schwerverletzte, abgedeckte Leichen und die im Erdreich erdrückte tote Frau des Lehrers.
Beklemmend sind auch die Szenen, in denen sich Reisende von damals in einem Originalwaggon des Unfall-ICE zum Interview auf ihre damaligen Plätze setzen. Eine Frau kniet sich spontan hin, um zu zeigen, wie sie damals ihr Kind beschützt hat. Der Koordinator der psycho-sozialen Nachbetreuung habe von einem solchen Nacherleben nicht abgeraten, sagt Produzent Ulrich Lenze. „Von Psychologenseite hieß es: Jedem, der zu einer Mitwirkung im Film und zu einer Versprachlichung seines Traumas bereit ist, wird das eher nützen.“ So kehrte man an den Originalschauplatz zurück und stellte mit 80 Feuerwehrleuten und 50 Helfern von damals die Situation in der ersten Stunde nach dem Unglück nach. „Dies war ein Augenblick, in dem Erinnerung, Inszenierung und tatsächliches Geschehen für Sekunden miteinander verschmolzen“, erzählt Regisseur Raymond Ley. Ähnlich atemberaubend ist eine andere Sequenz: Der Mann, bei dem Minuten vor dem Unfall der defekte Radreifen durch den Abteilboden schlug, war auf der Suche nach dem Schaffner losgelaufen und hatte wie andere Reisende nicht an die Notbremse gedacht. Im Film wird ihm gezeigt, wo im Originalabteil diese Handbremse angebracht war.
„Eschede Zug 884“ beschäftigt sich auch mit den Hintergründen der Katastrophe und belegt, dass es Mängelmeldungen wegen der Unwucht des Rades gegeben hatte, dieses aber nicht ausgetauscht wurde. Die zuständige Wartungsstelle in München hatte die Inspektionen der Räder der ICE-Züge lediglich mit Leuchtstofflampen und nicht mit Ultraschallgeräten durchgeführt, die auch Innenrisse erkennen können. Der letzte Prozess gegen drei Ingenieure wurde 2003 wegen geringer Schuld gegen Geldbußen eingestellt. 30 000 Mark zahlte die Deutsche Bahn AG für jeden Todesfall an die Hinterbliebenen. Vor der Kamera wollte sich von der Bahn niemand äußern. „Bis heute stellt sich dort keiner der Verantwortung“, kritisiert NDR-Redakteur Hans-Jürgen Börner. „Hartmut Mehdorn empfindet es offenbar als Sakrileg, dass wir mit diesem Film überhaupt an das Unglück erinnern.“ Der Bahnchef kommt in einem Interview mit Sandra Maischberger von 2001 zu Wort, in dem er sagt: „Die Bahn ist das sicherste Verkehrsmittel. Aber solche Katastrophen können wir nicht verhindern. Deutschland hat seine Katastrophe gehabt.“
„Eschede Zug 884“, ARD, 21 Uhr 45