Fotos getöteter Zivilisten in der Ukraine: „Ein Symbol dieses Krieges“
Ein „New York Times“-Foto von Pulitzer-Preisträgerin Lynsey Addario zeigt das Sterben in der Ukraine. Doch sollten solche Bilder veröffentlicht werden?
Dieses Bild vom Krieg in der Ukraine wird haften bleiben. Vier Menschen, ganz offensichtlich Zivilisten, liegen reglos auf einer Straße. Zwei ukrainische Soldaten beugen sich über sie, doch für diese Familie kommt jede Hilfe zu spät. „Einige Familien hatten Glück und kamen raus. Die Familie auf dem Foto hat es leider nicht geschafft. Die Mutter und die beiden Kinder haben es nicht überlebt“, erzählte die Fotografin Lynsey Addario am Dienstagabend im „heute-journal“ des ZDF, was sie am Sonntag in der ukrainischen Stadt Irpin Nahe Kiew mit ihrer Kamera festgehalten hat.
Die „New York Times“ hat dieses Dokument des Schreckens auf nahezu der gesamten Breite der Titelseite veröffentlicht – ungeschönt, direkt, ein schwer zu ertragendes Bild, das seither heftig diskutiert wird.
Lynsey Addario, die mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Fotojournalistin, ist seit 20 Jahren Kriegsreporterin, wurde selbst beschossen. „Aber das war eine Situation, wo Zivilisten das Ziel waren und die Granaten, die wurden wirklich auf die Zivilisten geworfen“, sagte sie im ZDF-Nachrichtenmagazin. Für sie bestand kein Zweifel: „Ich dachte aber auch, dass dieses Foto das Zeugnis eines Kriegsverbrechens ist, und dass ich dieses Foto machen soll. Diese Menschen, unschuldige Zivilisten, wurden angegriffen.“
Fotos wie die von Lynsey Addario sind verstörend. Sie zeigen die Brutalität des Krieges, der in der Ukraine am Donnerstag in die dritte Woche geht, auf eine Weise, der sich ein Betrachtender nicht entziehen kann. Und sie werfen beinahe zwangsläufig die Frage auf, ob solche Fotos veröffentlicht werden sollten. Oder ob man den Schrecken zumindest dadurch abschwächt, in dem die Gesichter der Getöteten verpixelt werden.
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Einige Kriegsfotos gelten unzweifelhaft als historische Dokumente der Zeitgeschichte. So wie das ikonische Foto von Robert Capas aus dem spanischen Bürgerkrieg, das einen tödlich getroffenen republikanischen Soldaten zeigt. Oder die Aufnahme des Polizeichefs von Saigon, der einen Mann in Zivil per Kopfschuss tötet.
Immer wieder wird zudem das Leid der Zivilbevölkerung in Kriegsfotos dargestellt, wie durch das Foto des durch Napalm verletzten Mädchens in Vietnam oder mit dem Bild des ertrunkenen syrischen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi am Strand. Das Titelfoto der „New York Times“ mit den drei toten Ukrainern gilt manchen schon jetzt als ein solches ikonisches Dokument der Zeitgeschichte.
Was der Pressekodex dazu sagt
In Deutschland regelt der Pressekodex für die Mitgliedsmedien des Deutschen Presserats, welche Darstellungen zulässig sind und welche nicht. In der Richtlinie 11.1 heißt es: „Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird.“ Ferner wird darauf hingewiesen: „Bei der Platzierung bildlicher Darstellungen von Gewalttaten und Unglücksfällen auf Titelseiten beachtet die Presse die möglichen Wirkungen auf Kinder und Jugendliche.“
[Hier finden Sie die Richtlinien des Pressekodex]
Die Presse soll das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer abwägen. Zugleich gilt Ziffer 8 des Pressekodex über den Schutz der Persönlichkeit. „Bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein“, heißt es darin.
In der Praxis kam der Rat indes zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen. Eine Beschwerde gegen das Foto eines abgeschlagenen Kopfes im Krieg in Liberia wurde vom Presserat abgewiesen. Die Veröffentlichung eines Fotos der Enthauptung des Amerikaners Nick Berg zog hingegen eine Rüge nach sich, weil die Aufnahme von den Islamisten für ihre Propaganda gemacht wurde, somit kein journalistisches Produkt darstellte.
Welche Abwägungen der Presserat vornehmen würde
Doch wie würde der Presserat entscheiden, wäre das Foto von Lynsey Addario in einer deutschen Zeitung oder einem Magazin veröffentlicht worden? Eine abschließende Antwort kann es erst nach einer entsprechenden Entscheidung des Presserates geben, sagte eine Sprecherin dem Tagesspiegel und verwies auf die Regeln des Pressekodex. In jedem Fall habe das Bild aus Irpin „eine sehr wichtige politische Dimension“. „Das ist hoch relevant“, so die Sprecherin.
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Abzuwägen wäre, ob die Getöteten durch dieses Bild zum zweiten Mal zu Opfern gemacht würden und ob das Bild das Leid der Angehörigen erhöht. Aber selbst dann kann das öffentliche Interesse an der Veröffentlichung überwiegen. „Denn letztlich ist dieses Foto ein Symbol dieses Krieges“.
So wurde das bei einem Foto vom Terroranschlag auf das Bataclan in Paris gesehen. „Bild“ zeigte seinerzeit die Leichen in einem Foto aus der Vogelperspektive. Weil an diesem Bild „die große politische Dimension des Anschlags“ sichtbar wurde, wertete es der Presserat als Dokument der Zeitgeschichte. Zugleich wurde in der Entscheidung aber hervorgehoben: Das ist ein Grenzfall. Als "Bild" das Foto eines 18 Monate alten toten Mädchens mit offenen Augen zeigte, das auf der Flucht aus Syrien erfroren ist, sprach der Rat hingegen eine Rüge aus. Gleichwohl könnte diese Entscheidung als Grundlage auch mit Blick auf das Foto aus der Ukraine dienen.
Zwei Beschwerden wegen Fotos zu Kriegsopfern
Gegen die Verwendung des "New York Times"-Fotos liegen dem Presserat aktuell keine Beschwerden vor, dafür aber wegen zwei anderen Fotos von Kriegsopfern vor.
Zum einen handelt es sich dabei um Fotos einer schwer verletzten Frau zum "Bild"-Beitrag „Putin, das ist Dein Werk“ von Ende Februar. Der Vorwurf: Das Foto verletze den Persönlichkeitsschutz der Betroffenen und sei eine unangemessen Darstellung von Gewalt. Ebenso wurde ein Foto einer Ukrainerin mit einem Kopfverband zu „Putins Blut“ in "Bild" als unangemessen sensationell und als Verstoß gegen den Jugendschutz von einem Beschwerdeführer gewertet. Bei beiden Beschwerden prüft der Presserat, ob ein Verfahren gegen die Redaktion eingeleitet wird.