"Gottschalk Live": Ein Besuch im Epizentrum der ARD-Krise
Thomas Gottschalk talkt seit Kurzem vor Publikum. Ein Ticket zur Sendung kostet acht Euro. Die Nachfrage könnte größer sein. Eine Reportage.
Eine kleine Umfrage zeigt, dass zahlreiche Besucher angerufen wurden, ob sie denn nicht am Dienstag, 27. März, als Zuschauer an „Gottschalk live“ teilnehmen wollten. Es wollten genug, das Studio im Humboldt-Carré an der Behrenstraße 42 in Berlins Mitte ist rappelvoll. Angerufen hat die Produktionsfirma Grundy light Entertainment, wer angerufen wurde, der steht in einer Zuschauerkartei. Wer auf diesem Wege zusagt, der muss nichts bezahlen. Das erhöht die Bereitschaft zum Leiden.
Um 18 Uhr 15 wird angetreten für die ARD-Vorabendsendung, die um 19 Uhr 20 beginnt. Es gibt Wasser aus dem Siphon, die Eintrittskarte muss ausgefüllt werden. Warten, doch kein Murren. Ungewöhnlich für ein Berliner Publikum. Im zweiten Stock wartet ja das Ziel der Begierde, es wartet Thomas Gottschalk auf sein Publikum. Den wollen sie sehen, „Gottschalk live“ haben die meisten nicht gesehen. „Ich erwarte mir nichts Großes“, „Habe nichts Gutes gehört“, „Die Privaten hätten längst abgesetzt“, tönt das Medley.
Jacken, Taschen, Handy, sämtliche Verwertungsrechte sind an der Garderobe abgeben worden, nicht aber der Respekt vor Thomas Gottschalk. Für die Studiozuschauer ist der 61-jährige Bayer unverändert ein Fernsehheld. Dankbar sind sie für 23 gemeinsame schöne Jahre mit „Wetten, dass..?“. Sie bewundern seine Leistung, sie respektieren seinen Rücktritt, was sie (noch) nicht verstehen, ist „Gottschalk live“. Nicht die Sendung, nicht die Uhrzeit, nicht den Moderator.
Das Geraune wird jäh unterbrochen. Thomas Gottschalk bahnt sich seinen Weg. Grüßt und redet nach allen Seiten, taxiert die Besucher. Zwei, drei fragen, ob er sie denn wiedererkenne, einer erinnert, der Thommy habe doch jüngst eine Cola für ihn ausgegeben. Gottschalk, der Zuschauerpolitiker, findet allerorten den richtigen Ton. Die Besucher fühlen sich willkommen geheißen. Der Star stößt auf Freundschaft, ein Heimspiel steht an.
Der Tagesspiegel-Reporter macht andere Erfahrungen. Kaum sitzt er in Reihe vier, zwängt sich ein Mann zu ihm. Der will kein Autogramm, der will Ärger. Der leitende Show-Mitarbeiter sagt: „Ich lese alles von Ihnen. Sie als Kritiker schreiben fies statt fair. Sie haben schon im Dezember gesagt, dass das nichts wird.“ Die cool gemeinte Replik, dass damit ein begabter Prophet vor ihm stehe, wird niederkartätscht. Es riecht nach Duell. Muss verschoben werden, jetzt kommen Gottschalks große Minuten. Er warmt das Publikum up. Er mischt Selbstironie („Nicht jeder Gag wird am Ende einer sein“), mit echter Ranschmeiße („Ich sehe nur hübsche Frauen“), Staunen über das meistenteils junge Publikum („Habt Ihr die ARD überhaupt auf der Fernbedienung?“) mit ernstem Appell: „Bitte an jeder Stelle klatschen, wo es geht.“ Gottschalk ist in seinem Element, der Entschluss des neuen und ersten Redaktionsleiters Markus Peichl, Thommy und Publikum in der Livesendung kurzzuschließen, ist ein wahrer Stimmungsaufheller. Thomas Gottschalk, der mit 61 Jahren plötzlich anfing, seine Locken streng von links nach rechts zu scheiteln, trägt sein Haar wieder offen. Ist nur ein kleines Zeichen, aber eines, dass wieder Hoffnung keimt im Moderator, bei den 60 Mitarbeitern.
Wie der Mann, so sein Arbeitsplatz.
Wie der Mann, so sein Arbeitsplatz. Was seit dem Sendestart am 23. Januar nach Habitat-Wohnung aussehen wollte, ist mittlerweile ein noch nicht ganz vollendetes Fernsehstudio von der Stange. Tisch, Stuhl, Sessel, Brauntöne dominieren. Eine Besucherin ist abgrundtief enttäuscht. Sie hatte den Kulissenwechsel verpasst, freute sich auf eine Begehung des luftigen Lofts und will jetzt nicht mehr wiederkommen. Kein (Kamera-)Blick geht mehr nach draußen. Es wird warm, stickig, die Luft verliert alle Aromen. Wir sitzen fest im Gottschalk-Lab. Seine werktägliche Sendung steht unter Vorbehalt, im Sommer den Stecker gezogen zu bekommen, und der strengen Beobachtung der Medienjournalisten. „Gottschalk live“, das ist die Sendung, über die enorm viel geschrieben und die enorm wenig eingeschaltet wird.
Den Zuschauern ist herzlich egal, was die Beobachter und Kritiker umtreibt. Wie immer ist das Publikum für die Profis schwer auszurechnen, wie immer irrt es selten. Der Start war ein einziges Desaster, selbst Grundy-Mitarbeiter sprechen vom „Fremdschämen“. Zugleich sprechen sie vom Neustart, neudeutsch Relaunch. Der hat diese Woche begonnen. Erkennbar am Studio, erkennnbar an Dramaturgie und Rhythmus. Im besten Falle sollen die beiden Gäste, am Dienstag sind das die Deutschmusiker Peter Maffay und Gunter Gabriel, thematisch und persönlich angegangen werden. Mit Maffay spricht Gottschalk über Mallorca-Landwirt-Maffay, über die Verschwendung von Lebensmitteln, mit Gabriel über Gabriel. Dann reden alle drei über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, dort sind Gabriel und Maffay aufgetreten. Am Montag hat Gottschalk das „Aus zwei plus eins mach drei“-Konzept mit Gregor Gysi und Tim Bendzko durchexerziert. Es funktioniert, wirkt freilich kopiert. Am Montag sahen die Zuschauer „Markus Lanz“ in der „Beckmann“-Kulisse, am Dienstag „Beckmann“ in der „Markus Lanz“-Kulisse. Ein weiterer führender Showmitarbeiter, offenbar ein Raketentechniker, wird später sagen, in der vergangenen Woche sei mit dem Eintritt des Publikums Stufe eins gezündet worden, die Beckmann-Markus-Lanz-Woche sei Stufe zwei, in der kommenden Woche werde die letzte Stufe gezündet: „Gottschalk live“.
Noch feixt die Kritik über die FDP-Variante der ARD. Gottschalk muss schneller liefern als Parteichef Philipp Rösler. Am 20. April wollen die ARD-Bosse über die Fortsetzung entscheiden. Die Wüste lebt. Am Montag lag der Marktanteil bei 5,5 Prozent, am Dienstag 5,4 Prozent. Bodenbildung niedriges Niveau, gewiss, aber eben Bodenbildung. Kurz nach der Sendung, genau um 20 Uhr 15 ist Arbeitsschluss im Humboldt-Carré. Die Zuschauer werden rasch rausgeschoben.
Vor der Tür steht die Fanbase. Autogramme, Fotos, Gottschalk wird nichts zu viel. Das Taxi, es ist das Londoner Modell, mit dem er im Dezember zur ARD-Pressekonferenz vorgefahren war, tuckert heran. Abfahrt Star. Der leitende Mitarbeiter ist vor dem Kritiker aus dem Boden gewachsen. Weiter Krieg? Gar nicht. Handschlag, Fachgespräch. Abgang Mitarbeiter. Es ist menschenleer vor dem Carré. Zartestes Lampenlicht fällt auf die Szenerie. Der Kritiker denkt, wieso auch immer, an Lili Marleen.