München und die Medien: Egal wo, Hauptsache sofort
Terror und Gewalt in Echtzeit: Wie sich das TV-Nachrichtengeschäft durch Social Media ändert.
Der Amoklauf von München am vergangenen Freitag hat die deutschen Fernsehsender erneut in eine unübersichtliche Breaking-News-Situation geworfen und damit zum wiederholten Male in den Fokus gerückt, wie diese mit solchen Ausnahmesituationen umgehen – heute, in Zeiten von Terror und Social Media. Sie haben es gut gemacht. Das vorweg. Und dieser Satz fällt nicht leicht zu schreiben. Denn er ist, überspitzt gesagt, eine Abkehr von journalistischen Gepflogenheiten. Er ist das Eingeständnis, das heute im Zweifel der Primat des Sendens gilt, nicht mehr des Abwägens.
Amateuraufnahmen in den sozialen Medien gehören schon länger zum Instrumentarium der Berichterstattung, seit einiger Zeit – wohl vor allem seit Dallas, Nizza, Istanbul und München – nun auch noch der Jedermann-Livestream. Ob via Facebook oder Periscope, immer öfter sind Augenzeugen vor Ort die erste Nachrichtenquelle. Wieso als Zuschauer also auf die Berichterstattung im TV warten, wieso die Websites der großen Nachrichtenportale ständig aktualisieren, wenn ich doch auf dem heimischen Sofa mit nur einem Klick vor Ort sein kann, wenn es auf Twitter möglich ist in aller Kürze nachzulesen, was gerade am Olympia-Einkaufszentrum in München passiert. Alles Wege, um mir mein eigenes Bild zu machen – unmittelbar und ungefiltert. Alles kein Verhalten nach dem journalistischen Lehrbuch, heute aber Realität.
Denn mit dem Bedeutungszuwachs der sozialen Medien, besonders wohl mit dem Aufkommen der Livestreams, hat sich in den vergangenen Jahren die Erwartungshaltung unserer Zuschauer verschoben, ob wir wollen oder nicht. Wenn etwas passiert, will es gesehen werden. Egal wo, Hauptsache schnell. Am besten sofort.
Dass dadurch viel Unsinn verbreitet wird, Falschmeldungen generiert werden, vorschnelle Analysen gezogen, falsch zugeordnete Bilder gepostet werden – das gehört zum Kollateralschaden der sozialen Medien. Und ist nicht mehr zu verhindern. Und hier kommen wir deshalb zum Primat des Sendens. Denn genau um diesen Kollateralschaden einzudämmen, muss es nach wie vor Profis geben, die zeitgleich zu den Facebook- und Twitter-Analysten auf Sendung gehen.
Denn wenn alle alles senden können, wird es wieder wichtig, was die Journalisten senden. Wird es wieder wichtig, bei welchem Material sie auf Unstimmigkeiten verweisen, was sie zurückhalten, wo sie Spekulationen auch wirklich als solche bezeichnen. ZDF-Anchor Claus Kleber sprach am Freitag während der Sondersendung von „gesunden Mutmaßungen“ als er die Lage in München skizzierte, ARD-Mann Thomas Roth verwies vor jedem neuen Gespräch mit Polizeireporter Oliver Bendixen auf die Spekulationen, auf die sich ihr Gespräch stützt. Beides wurde Beiden (paradoxerweise vor allem in den sozialen Medien) zum Vorwurf gemacht. Aber es sind genau diese feinen Abstufungen der Nachrichtenprofis, dieses akribische Formulieren, das bei Facebook, Twitter & Co. fehlt. Dort, wo jede aufgeschnappte Information zum Fakt gemacht wird.
Sofort-Senden als urjournalistische Aufgabe
Deshalb ist das noch vor wenigen Jahren verpönte Sofort-Senden heute zur urjournalistischen Aufgabe geworden: Orientierung geben, damit sich die Zuschauer nicht selbst orientieren müssen. Heutzutage noch Ruhe zur Recherche einzufordern ist löblich, aber sinnlos. Die Ruhe wird im Zeitalter der Social Media nicht wiederkehren. Eine Aufgabe der Medien, so muss es wohl nach heutigem Stand formuliert werden, ist es deshalb auch, ein Informationsvakuum zu verhindern, in dem sich Falschmeldungen und Verschwörungstheorien ausbreiten.
Wie kann und muss es also weitergehen? Die Nachrichtenredaktionen – ob Print, online oder TV – werden in Zukunft vor allem noch mehr kundige Social-Media-Rechercheure und Datenjournalisten aufbieten müssen, damit diese schnell und zuverlässig das Netz scannen und die dort verfügbaren Informationen bewerten können. Redakteure, die Metadaten aus Bildern lesen, die erste Einschätzungen zu Twitter-Konten abgegeben können, die die Gesamtlage einschätzen – damit diese wiederum schnell auf den Sender gehen kann. Hauptsache schnell. Am besten sofort.
Wir können darüber jammern, dass uns die sozialen Medien in diese Situation gebracht haben. Wir müssen aber damit journalistisch umgehen.
Tim Klimeš verantwortet den TV- und Digitalbereich der Berliner Fernsehproduktion AVE.
Tim Klimeš
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