Interview: „Diktatoren dürfen nicht mehr auf Ruhe hoffen“
Reporter Thomas Verfuss über seine Arbeit am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Tribunale und eine neue Epoche des Rechts.
Herr Verfuss, wie kommen Sie damit zurecht, sich fast täglich mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu befassen?
Wie ein Mediziner muss man hier Professionalität entwickeln und sich Distanzfähigkeit erhalten. Auch Ärzte können nicht mit jedem Patienten mitsterben. Und trotz aller Gräuel von denen man hört: Es stimmt optimistisch, dass es Bürger in den betroffenen Staaten gibt, die das Beste mit ihrem Land vorhaben, und die aufrechte Hoffnung haben, dass ihr Land durch die Prozesse in Den Haag ein besserer Ort wird.
Was war diese Woche los an den Internationalen Gerichtshöfen in Den Haag?
In Brüssel geht es zurzeit um Verhandlungen mit Serbien zum Beitritt in die EU. In Den Haag spielt sich ein Teil der historischen Aufarbeitung des Jugoslawien-Konfliktes ab. Hier wollte gerade der wegen Kriegsverbrechen angeklagte Radovan Karadzic am UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien den Angeklagten Ratko Mladic als Zeugen in seinem Prozess vernehmen lassen. Mladic hat sich geweigert. Vor fast 20 Jahren sahen wir, wie Karadzic und Mladic die Weltgemeinschaft herausforderten. Massengräber und Elend waren die Folge. Jetzt sieht man zum ersten Mal beide wieder zusammen in der Öffentlichkeit – vor einem UNO-Gericht.
Den Haag ist die Hauptstadt des internationalen Rechts, der Ort, an dem sich die Globalisierung des Rechts faktisch verdichtet. Womit haben Reporter es hier zu tun?
Zunächst muss man sich die Vielfalt der Institutionen vor Augen halten: Den Haag ist der Sitz des Friedenspalasts mit dem Internationalen Gerichtshof (ICC), der wie der Ständige Schiedshof Streitfälle zwischen Staaten regelt. Außerdem gibt es hier das Jugoslawien-Tribunal (ICTY) und den Internationalen Strafgerichtshof. Hier sind auch die Organisationen Eurojust, Europol und die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen angesiedelt, die 2013 den Friedensnobelpreis erhalten hat. Aktuell tagt das Libanon-Sondertribunal zum Mord an Rafiq al Hariri.
Was braucht ein Journalist, um da überall folgen zu können?
Solides juristisches, zeithistorisches, sprachliches Wissen. Vor allem mit der englischen Rechtsterminologie und den Statuten der Gerichte sollte man vertraut sein. Hilfreich sind auch interkulturelle Kommunikationsfähigkeiten. Als Gerichtsreporter begegnet man Menschen aus Ländern wie Bosnien oder Kenia in ihren Rollen als Angeklagte, Anwälte, Zeugen, Opfer, Journalisten, Aktivisten für Menschenrechte. Mit all denen muss man reden können.
Welche Fähigkeiten braucht es noch?
Es ist gut, eine Portion Begeisterung für die enorme Transformation mitzubringen, die hier zu erleben ist. An den internationalen Gerichtshöfen wird ja Geschichte geschrieben, und es ist faszinierend, wie Dutzende verschiedene Nationalitäten im Namen der Gerechtigkeit zusammenarbeiten. Es bedeutet eine historische Revolution, dass am ICC mit der „Tradition“ abgerechnet wird, dass Diktatoren und deren Helfer, die Morde, Folter, schlimmste Menschenrechtsverletzungen begangen hatten, nach ihrem Sturz einem ruhigen Lebensabend entgegensahen. Früher gingen sie mit dem Vermögen, das sie ihrer Bevölkerung gestohlen hatten, ins Exil – wie der Schah von Persien oder die Ex-Präsidenten Mobutu und Habré von Zaire und Tschad. Heute droht solchen Leuten Den Haag.
Am ICC werden auch höchste Amtsträger angeklagt, aber keine Länder.
Ja, am ICC gilt das Prinzip der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Ohne Gerechtigkeit kein Friede, keine dauerhafte Versöhnung. Das ist die Grundidee, die Philosophie des Internationalen Strafgerichtshofs. Manche Verbrechen sind so schlimm, manche Täter so hochrangig, wie Staatsoberhäupter und Generäle, dass die Justiz im eigenen Land die strafrechtliche Bewältigung oft nicht schafft oder nicht schaffen will. Dann kann der ICC aktiv werden. Er hat allerdings keine eigene Polizei und hängt von der Mitwirkung der Staaten ab, den Haftbefehlen nachzukommen. Der sudanesische Präsident Baschir ist schon seit Jahren angeklagt wegen Völkermordes in Darfur und läuft doch noch frei rum. Auch hat der Gerichtshof Probleme mit komplexen Verfahrensregeln und Straftatbeständen. Hier wird täglich dazugelernt. Hans-Peter Kaul, der deutsche Richter beim ICC, sagte darüber sehr treffend, der Internationale Strafgerichtshof „ist eine Baustelle für mehr Gerechtigkeit’“.
Sie sind seit 2002 Vorsitzender der Vereinigung von Journalisten am Internationalen Strafgerichtshof (AJICC). Sie sind Deutscher, schreiben auf Niederländisch, Deutsch und Englisch, sprechen außerdem Französisch und Italienisch. Da Sie an sämtlichen Gerichtshöfen unterwegs sind, kennen Sie sogar mehr Prozesse als die Richter und Staatsanwälte.
Na ja, unter anderem habe ich einfach das Privileg, hier zu leben. Unsere Vereinigung hat rund 50 Mitglieder, viele wohnen nicht in Den Haag, sondern reisen, je nach Interesse ihrer Redaktionen, aus Brüssel oder New York, Amsterdam oder Frankfurt für einzelne Anlässe an. Wir haben die Vereinigung gegründet bald nachdem der ICC 2002 an die Arbeit ging. Anfangs gehörten vor allem Journalisten niederländischer Medien und Reporter internationaler Medien wie BBC, „The New York Times“ und „Le Monde“ dazu, von denen viele vorher Erfahrung mit dem Jugoslawien-Tribunal gesammelt hatten. Bei den meisten anderen Redaktionen richtet sich aber das Interesse leider oft nach dem aktuellen Hype – zum Auftakt des Milosevic-Verfahrens am ICTY kamen fast tausend Journalisten aus aller Welt. Nur eine Handvoll war später noch gelegentlich da.
Es gibt noch keine Medienkultur für das internationale Recht?
Mit Ausnahme von Agenturen wie Reuters, AP oder AFP fehlt es leider bei vielen Redaktionen im Westen an Interesse und Sachkenntnis. Und Redaktionen aus ärmeren, südlichen Staaten können es sich kaum leisten, Leute nach Den Haag zu schicken. Aus der Demokratischen Republik Kongo, der Zentralafrikanischen Republik oder der Elfenbeinküste sieht man empörenderweise selten Kollegen, obwohl sich der ICC mit Verbrechen in diesen Staaten befasst. Die Medien dort sind schlicht zu arm, oder es fehlt am Know-how, Anträge auf Reisekostenförderung zu stellen. Wir vom AJICC versuchen auch, daran etwas zu ändern.
In dem in Oxford erscheinenden „Journal of International Criminal Justice“ haben sie dieses Gefälle schon vor zehn Jahren beklagt.
Das Wohlstandsgefälle zwischen den Niederlanden und den durch den Krieg arm gewordenen Länder ist groß. In den Niederlanden sind die Lebenshaltungskosten hoch, und bosnische Reporter zum Beispiel sah man in den ersten Jahren so gut wie nie am Tribunal für Ex-Jugoslawien. Dabei sollen die Prozesse besonders in den Nachkriegsstaaten aufklärende und präventive Wirkung haben. Aber Kosten und Visaprobleme machten die Reise nach Haag fast unmöglich. So konnten auch Opfer und Zeugen aus ihren Medien kaum etwas von dem erfahren, was hier verhandelt wurde.
Dann gab es Stipendien, etwa durch die Regierung der Niederlande und NGOs wie „Press Now“ oder die Open Society Foundations des Mäzens George Soros. Wird Ähnliches heute für Reporter aus Afrika geleistet?
Im Prinzip ja, Journalisten können Gelder bei der Europäischen Union oder über NGOs beantragen, und es gibt Fortbildungen. Aber aus Zentralafrika kamen bisher kaum Anfragen, die bürokratischen Hürden sind für Pressevertreter dort offenbar zu hoch.
Nicht einmal wohlhabende Nationen haben permanente Berichterstattung über die Den Haager Prozesslandschaft. Warum?
Es ist bedauerlich, dass es bei Medien und Öffentlichkeit noch nicht genug Bewusstsein dafür gibt, was in Den Haag derzeit passiert. Wir erleben hier den Beginn einer Epoche des internationalen Rechts. Heute wird in die Praxis umgesetzt, was Strafrechtler und Denker nach den Nürnberger Prozessen zu fordern begonnen hatten: das Ende der Straffreiheit auch für kriminelle Staatschefs, Generäle und andere Amtsträger.
Was müsste passieren, damit internationales Recht und Strafrecht mehr Aufmerksamkeit erhalten?
Ideal wäre eine Struktur, die es Journalisten erlaubt, ständig am Ball zu bleiben, auch dann, wenn gerade kein Hype in Haag herrscht. Um sich auszukennen, muss man auch in den Phasen Prozesse verfolgen, die streckenweise langweilig und anstrengend sein können.
Sie haben nach zwanzig Jahren ein enormes Archiv, nicht nur im Regal, sondern auch im Gedächtnis. Können Sie es an Kollegen weiterreichen?
Glücklicherweise habe ich dazu immer mal wieder Gelegenheit. Neuen Kollegen am ICTY und ICC kann ich Auskunft geben und an Seminaren als Lehrender teilnehmen. In Kenia zum Beispiel habe ich als Unterrichtender an einer Schulung des ICC teilgenommen, die von der Soros-Foundation finanziert wurde. In Nairobi, Mombasa, Nakuru und Kisumu haben wir etwa hundert Kollegen geschult, das Interesse war beachtlich.
Das Gespräch führte Caroline Fetscher.
Thomas Verfuss, geboren 1960, ist seit 2002 Vorsitzender der Vereinigung von Journalisten am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Er arbeitet für die niederländische Agentur ANP.
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