zum Hauptinhalt
Die Welt am Glas: Augmented Reality soll die Wahrnehmung des Nutzers erweitern. Beim Blick über den Königsee scheint das kaum nötig.
© Imago

Augmented Reality: Die Welt durch die Brille der Softwarekonzerne

Die computergestützte Erweiterung unserer Wahrnehmung soll das Leben revolutionieren. Doch der Nutzer sieht die Realität dabei vor allem aus der Perspektive der Tech-Giganten.

Was ist eigentlich ein Algorithmus? Heutzutage muss man Begriffe oder Fragen nicht mehr im Lexikon nachschlagen. Es genügen ein paar Klicks im Internet. Wikipedia weiß die Antwort. Was Fakten anbelangt, ist die Online-Enzyklopädie unübertrefflich. Was aber, wenn wir einem Objekt begegnen, aber nicht wissen, was es ist? Zum Beispiel einem Baum in einem Park. Oder einem bestimmten Baustil in einer Stadt. Dann wissen wir oft nicht weiter.

Zwar gibt es Alternativen zur textbasierten Suche, so etwa Sprachassistenzsysteme wie Siri. Das Problem ist nur: Sie suchen noch nicht mit der gewünschten Präzision. Die Technologie, die das Suchen und Finden erleichtern könnte, heißt Augmented Reality (AR). Darunter versteht man, grob gesagt, die computergestützte Erweiterung unserer Wahrnehmung von Realität. Mithilfe einer Datenbrille, zum Beispiel Google Glass, könnte eine Kamera Objekte identifizieren. Ein Wikipedia für dreidimensionale Objekte könnte entstehen. „Die AR-Technologie verspricht dem Nutzer, seine Wahrnehmung der Welt zu erweitern und ihm zu helfen, besser mit Daten und Technologien zu interagieren“, sagt Franziska Roesner, Professorin für Computerwissenschaft an der University of Washington, dem Tagesspiegel.

Ein AR-System könnte beispielsweise verschiedenfarbige Teppiche oder Tapeten projizieren, wenn man durch ein Haus läuft. Auf einem etwas höheren technischen Niveau könnte es Erinnerungsbuttons vor dem Auge aufleuchten lassen, die an den Arztbesuch erinnern. Derlei Anwendungen, sagen Entwickler, sind erst der Anfang. Augmented Reality soll die Bildung revolutionieren. Die Technik hält das Versprechen, dass sie den Nutzer in eine experimentelle Lernumwelt eintaucht. Statt dröge Abhandlungen über den Ersten Weltkrieg in einem Buch zu lesen, könnte der Schüler oder Student Schlachten anschauen, wie sich Schlachten in Wirklichkeit zutrugen – so als sei der Beobachter selbst dabei gewesen.

Soziale Netzwerke wie Instagram, Pinterest oder Facebook haben zu einem kulturellen Wandel geführt, wie wir Informationen austauschen. Laut einer Studie der New York University beziehen 80 Prozent der Menschen Informationen über Bilder und nur zehn Prozent über Lesen. Daran setzt die Technik an. Der Nutzer hat den Eindruck, physisch in eine virtuelle Welt einzutauchen. Virtual Reality heißt das. Im Journalismus und Profifußball wird damit bereits experimentiert. Entwickelt man die Technik weiter, könnten Medizinstudenten bald eine Anatomievorlesung besuchen, in der sie mit einer Datenbrille durch den menschlichen Körper wandern.

Augmented Realtiy ist mehr als nur Science-Fiction

Der geneigte Beobachter mag das auf den ersten Blick vielleicht für etwas zu viel Science-Fiction halten. Doch Augmented Reality ist längst Wirklichkeit. Zum Beispiel bei Fußballübertragungen, wenn die Entfernung zum Tor bei einem Freistoß eingeblendet wird. Die Entwicklungspotenziale sind riesig. Die Autohersteller Landrover und Jaguar haben unlängst eine virtuelle Windschutzscheibe vorgestellt, die dem Fahrer wie in einer Rennsimulation Geschwindigkeit, Ideallinie und Zwischenzeiten einblendet. Wirklichkeit und Virtualität verschmelzen; die Informationen legen sich wie eine Folie über die Scheibe – gewissermaßen als zweite Ebene. In der Kurve zeigt das System in Grün oder Gelb die Ideallinie mit Beschleunigungs- und Geschwindigkeitshinweisen. Das intelligente Auto von Jaguar Land Rover weiß, wer mit ihm unterwegs ist – und stellt sich darauf ein.

Die Anwendungsmöglichkeiten von AR-Lösungen sind schier unbegrenzt. Ikea hat zum Beispiel eine App entwickelt, mit der sich Möbelstücke frei im Raum platzieren lassen – zumindest virtuell auf dem Display eines Smartphones oder Tablets. In dem neuen Augmented-Reality-Katalog sind verschiedene Produkte mit einem 3-D-Icon verbunden. Durch einen Klick erscheint das Symbol. Gleichzeitig wird die Kamera aktiviert. Im Handumdrehen landen die Möbel in der virtuellen Wohnung. Der Versandriese Amazon hat unlängst ein neues Future in seiner mobilen Shopping-App vorgestellt. Mit Amazon Flow können Nutzer mit der Smartphone-Kamera Gegenstände abfotografieren und auf Amazon bestellen. Statt einen Barcode abzufotografieren oder einzuscannen, erkennt Flow Objekte anhand ihrer Form, Größe, Farbe und Banderole. Ein Klick, und das Produkt kann bestellt werden.

„Ich sehe ein großes Potenzial von AR in zahlreichen Industrien“, sagt der Computerwissenschaftler Edward Swan. „Etwa im Bereich der Medizintechnik, bei bildgestützten Operationen. Die Idee ist hier, eine Art Röntgenstrahlung zu haben, mit der man in den Körper des Patienten hineinsieht. Chirurgen können das bereits, aber sie müssen auf ihren Monitor neben den Patienten schauen. Die OPs wären effektiver, wenn der Arzt – etwa mit einer speziellen Brille – direkt in den Patienten hineinschauen könnte“, so Swan.

Die Technikgiganten investieren immer mehr Zeit und Geld in Augmented-Reality-Lösungen. AR ist, was man im Euphorie-Sprech des Silicon Valley eine „Multi-Million-Dollar-Industry“ nennt. Es herrscht Goldgräberstimmung. Das Start-up Oculus Rift, Hersteller für VR-Brillen, wurde von Facebook für zwei Milliarden Dollar gekauft. Laut einer Untersuchung von Research and Market soll das Marktvolumen auf eine Billion Dollar in 2015 wachsen. 60 Millionen Nutzer gibt es bereits in diesem Jahr. Dadurch, dass Wearables und AR-fähige Geräte auf den Markt kommen, erstarkt Augmented Reality zu einem Massenmedienkanal.

Augmented Reality ist eine Gefahr für den Datenschutz

Der Entwickler Ambarish Mitra schrieb in einem Beitrag für das Technikmagazin „Wired“: „Die Bilderkennungstechnologie wird bald das Auge sein, das automatisch die Funktionen von Objekten erkennt und Informationen von einer schnell lernenden Maschine einholt.“ „Augmented Reality wirft datenschutzrechtliche Bedenken auf, sowohl für die umstehenden Personen als auch die Nutzer selbst“, konstatiert Computerforscherin Roesner. „Die Privatsphäre der Dritten wird durch heimliche Video- und Audio-Aufnahmen beeinträchtigt. Wir können davon ausgehen, dass AR-Geräte eine Menge Sensoren eingebaut haben, die permanent Daten sammeln, darunter auch sensible wie Orte. Die Bedenken gibt es schon bei Smartphones, aber mit Augmented Reality vergrößern sie sich noch“, erwartet die Expertin. Die Software von Jaguar etwa greift auf Kalendereinträge und die Tageszeit zurück und versucht auf dieser Datengrundlage Vorhersagen über das Verhalten und die Absichten des Fahrers zu treffen. Die Technik ist dementsprechend manipulationsanfällig. Bösartige Anwendungen oder Schadsoftware könnten die Technik hacken und lahmlegen. „Bei den Windschutzscheiben könnte bösartige Software erheblichen Schaden anrichten“, befürchtet Roesner. Der Hacker könnte einen Fahrfehler herbeiführen und wie von Geisterhand einen Unfall mitverursachen.

Alessandro Acquisti ist Professor an der Carnegie Mellon University und ein weltweit anerkannter Forscher auf dem Gebiet Augmented Reality und Privatsphäre. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel sagt er: „Man kann sich eine nicht so entfernte Zukunft vorstellen, in der Fremde uns in der Straße erkennen und wir Fremde in der Straße erkennen werden, jeder wäre in der Lage, mit Augmented-Reality-Geräten Rückschlüsse auf sensible Informationen zu ziehen.“

Eine vorgefertigte Welt

Der Verkaufsstart der Datenbrille von Google steht unmittelbar bevor. „Die zweite Sorge, die ich habe“, sagt Acquisti, „ist, dass die AR-Geräte uns Informationen anzeigen, die von irgendwelchen Algorithmen bereitgestellt wurden, die wiederum von Softwareingenieuren entwickelt wurden. In dem Maße, in dem AR unsere Art auf die Welt zu sehen und unsere Entscheidungsprozesse beeinflusst, werden wir einen Teil unserer Autonomie preisgeben.“ Wir sehen nicht nur durch die Datenbrille, sondern auch die vorgefertigte Welt, die die Entwickler in unsere Gedanken projizieren. Weiter zugespitzt: Wir sehen nicht unbedingt das, was wir wollen, sondern das, was die Softwarekonzerne programmiert haben.

Sollte es also irgendwann einmal ein Wikipedia in 3-D geben, ist es wahrscheinlich, dass die Datenbrille uns nicht nur das gewünschte Objekt – etwa eine besondere Blume – benennt, sondern auch gleich noch einen Hinweis darauf gibt, wo man diese günstig kaufen kann. Die Technik ist ambivalent. Datenexperte Acquisti sagt: „Das Potenzial von AR, unser Verhalten subtil, mächtig und manchmal gar nicht mehr wahrnehmbar zu steuern, ist gewaltig.“

Adrian Lobe

Zur Startseite