Privatfernsehen: Die Nackten und die Toten
Jetzt kriegt auch noch Ronald Schill ein eigenes Format: Das Privatfernsehen verkommt zu einer Studie über Verhaltensauffällige. Schafft es sich selbst ab?
Es war der 1. Januar 1984, kurz vor zehn Uhr am Morgen. In einem Keller in Ludwigshafen saßen Jürgen Doetz und Irene Joest und starrten in eine Kamera. Und es war Doetz, der dann folgenden Satz sprach: "Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Moment sind Sie Zeuge des Starts des ersten privaten Fernsehveranstalters in der Bundesrepublik Deutschland."
Es ist der 3. September 2014 und man lehnt sich nicht allzu weit aus dem Kellerfenster, wenn man den Satz schreibt: "Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesen Tagen werden Sie Zeuge vom Ende der privaten Fernsehveranstalter in der Bundesrepublik Deutschland." Denn das Privatfernsehen ist gerade dabei, sich selber abzuschaffen. Es hat, immerhin, über 30 Jahre ausgehalten, und was Fernsehkritiker, Kulturpessimisten und andere notorische Rumnörgler nicht hinbekommen haben, dafür brauchen RTL, Sat.1 und Pro7 im Prinzip nur einen Spätsommer und einen Frühherbst. Und wer jetzt denkt, dass diese These vielleicht arg waghalsig sei, der sollte dann tatsächlich mal diese Sender einschalten, irgendwo auf der Fernbedienung werden die schon noch sein. Noch.
Denn wenn man in diesen Tagen Privatfernsehen schaut, dann kommt einem vieles zunächst einmal bekannt vor: Verhaltensauffällige drehen durch - das ist schon etwas länger das Allheilmittel der Programmverantwortlichen. Und das ist zugleich ihr Problem: So wie der Junkie von Mal zu Mal eine höhere Dosis braucht, um seinen Kick zu bekommen, braucht das Privatfernsehen noch krassere Verhaltensauffällige, die noch irrer durchdrehen. Am Ende gibt es dann die Überdosis - und die könnte fürs Privatfernsehen schneller kommen, als ihnen lieb ist.
Schill will eigenes TV-Format
Am Montag kündigte Ronald Schill an, dass er mit der Produktionsfirma Endemol Gespräche über ein eigenes TV-Format führen würde. Das Problem ist, dass das wahrscheinlich sogar stimmt. Schill ist dieser sogenannte Richter Gnadenlos, der zwei Wochen durch das "Bild"-Verkaufsvehikel "Promi Big Brother" auf Sat.1 lief. Schill hat, wie alle anderen Teilnehmer dieser Sendung (einschließlich Moderator und Cindy aus Marzahn), theoretisch nichts im Fernsehen zu suchen - es fehlt an Talent und Unterhaltungswillen. Dass aber das Privatfernsehen meint, dass so einer wie Schill ins Fernsehen gehört, dass man mit einem Mann, für dessen Wahl zum Innensenator sich die Hamburger heute noch schämen, tatsächlich auf Sendung gehen könnte - das zeugt von einer vollkommenen Hilflosigkeit.
Und Schill ist nicht die einzige Personalie, die in diesen Tagen verblüfft: Heino geht in die Jury der RTL-Castingshow "Deutschland sucht den Superstar" (DSDS). Genau: Heino. Vielleicht liegt das daran, dass sich der Volksmusikant seit zwei Jahren so anzieht wie Dieter Bohlen - andere Gründe kann es kaum geben. Es sei denn, RTL sucht nach einem Sündenbock dafür, nach der kommenden Staffel das Format, das seit Jahren bereits schwächelt, beerdigen zu können.
Heino, Schill - wer könnte im Jahr 2014 bei den Privaten noch eine Fernsehsendung bekommen? Nena? Pierre Littbarski? Andererseits: Was sollten talentierte, junge Nachwuchshoffnungen denn da eigentlich wegmoderieren? Nachdem sich sogar Daniel Hartwich für manche Sachen mittlerweile zu fein ist, moderiert die RTL-Casting-Show "Rising Star" ein Mann, dessen Name sehr zurückhaltend kommuniziert wird und der wirkt, wie die jüngere, schlechtere Version von Wigald Boning. Aber der hat nur eine Teilschuld an diesem Desaster von einer Show, die bereits in mehreren Ländern kolossal gefloppt ist: Das Prinzip ist nicht schlüssig; es gibt eine Jury, aber keiner weiß warum; das Voting-System scheint nicht nur dubios: Nachdem sich ein Teilnehmer verplappert hatte, gilt es als ausgemacht, dass die Kandidaten Lieder singen müssen, die sie nicht singen wollen - das Ergebnis war ein Shitstorm am Wochenende und sinkende Quoten.
Zu belanglos für einen Shitstorm ist die RTL-Dating-Show "Adam sucht Eva", moderiert von, aufpassen!, einer gewissen Nela Lee. Da laufen drei Männer und drei Frauen irgendwie nackt irgendwo rum. Nackte! Menschen! Auf dem Bildschirm! Das ist in Zeiten des Internets wirklich mal eine bahnbrechende Idee. Es geht aber natürlich noch viel bahnbrechender: Die ProsiebenSat.1-AG hat sich die Rechte für das britische Format "Sex Box" gesichert. Da haben Paare in einer Kiste miteinander Sex. Man hört und sieht nichts. Das ist allerdings die gute Nachricht. Die schlechte: Hinterher reden die Paare darüber. In England war das sogar ein Erfolg, das Format soll jetzt auf Sat.1 Gold "getestet" werden und dann eventuell im Hauptprogramm laufen. Wer so lange nicht warten will, kann sich bei Youtube die englischen Folgen anschauen. Danach darf man aber nie wieder lästern über "Die schönsten Bahnstrecken Europas" - das war dann doch aufregender.
Joko und Klaas und Olli Schulz
Nun war es ja noch nie so, dass das Privatfernsehen das bessere Fernsehen gewesen wäre - aber der Unterschied zwischen der Verzweiflung von RTL, Sat.1 und Pro 7 und der Innovationskraft der öffentlich-rechtlichen Sender war noch nie so sichtbar wie im Moment. ARD und ZDF haben vor allem mit ihren Spartenkanälen spannende Formate entwickelt und geben Menschen die Möglichkeit, Fernsehen zu machen, die auch unbedingt gutes, spannendes Fernsehen machen wollen. Das wird sich spätestens im kommenden Jahr auch jenseits der Spartenkanäle zeigen. Die Privaten haben Joko und Klaas und Olli Schulz - aber die wirken bei Pro7 nicht als prägende Kraft, sondern als Fremdkörper, die am Ende einer Party vorbeigekommen sind, um den Laden kurz und klein zu hauen. Und dann startet Mitte September auch noch Netflix in Deutschland - jener Internetsender, der in den USA mit Serien wie "House of Cards" oder "Orange Is The New Black" sogar HBO das Fürchten gelehrt hat. Die Eigenproduktionen der Privaten, angekündigt als "TV Events", haben dann eine Güte wie "Die Staatsaffäre", die gestern Abend bei Sat.1 lief, und in der Veronica Ferres allen Ernstes die Bundeskanzlerin gegeben hat.
Jürgen Doetz ist heute übrigens Vizepräsident von Mainz 05.
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