Wie das ZDF mit Belletristik und Sachbuch umgeht: „Die klassische Rezension werden Sie bei uns kaum finden“
Die Literatur, das Interesse des Publikums und der Programmauftrag des ZDF: Ein Gespräch mit Kulturchefin Anne Reidt.
Frau Reidt, auf welche Weise erfährt das ZDF-Publikum, dass dem Sender die Literatur ein Anliegen ist?
Unser Publikum kann der Literatur in vielfältiger, oft überraschender Weise begegnen. Im ersten Lockdown haben wir „Die Pest“ von Albert Camus mit dem Theater Oberhausen und Bürgerinnen und Bürgern der Stadt in Szene gesetzt – als partizipative Serie in der ZDFmediathek. Diese Idee registrierte sogar die „New York Times“.
Im „heute-journal“ erörterte erst kürzlich unser Literaturkopf Thea Dorn Grundfragen menschlicher Existenz und Endlichkeit: Ihr neuer Roman „Briefe an Max“ fragt in Corona-Zeiten, wo der Mensch noch Trost finden kann. Und zum 150. Geburtstag von Heinrich Mann ging die 3sat Kulturdoku „Heinrich Mann – der unbekannte Rebell“ der Aktualität des Autors auf den Grund.
Schöne Einzelbeispiele, aber wo bleibt der generelle Ansatz?
Wir sind eine Plattformredaktion, die Kultur und Künste bewusst in alle Programmbereiche hineinspielt. Denn die Sicht der Kunstschaffenden auf die vielen Herausforderungen in Politik und Gesellschaft ist oft anders, herausfordernd – und sie sollte breit Gehör finden. Auch die Literatur erhält daher viel Raum im Kulturressort und darüber hinaus.
Womit wir schon beim „Literarischen Quartett“ angelangt sind.
Richtig. Klassiker ist und bleibt natürlich „Das Literarische Quartett“. Gastgeberin Thea Dorn weiß Literaturkritik mit gesellschaftspolitischer Analyse und literarischer Unterhaltung zu verbinden, mit wechselnden Gästen wie Eva Menasse, Sybille Lewitscharoff, Matthias Brandt oder Andrea Petkovic. In unserem Kultursender 3sat laden Moderator Gert Scobel und drei Kritikerinnen ebenfalls regelmäßig zur „Buchzeit“ ein, zur lebhaften Debatte über Sprache und Form, Interpretationen und Relevanz literarischer Werke.
Neuerscheinungen begegnen dem ZDF-Publikum beinahe wöchentlich in unserer großen Traditionssendung „Aspekte“. Katty Salié und Jo Schück treffen Daniel Kehlmann oder Isabelle Allende im Büro oder im Wohnzimmer. Das neue Doku-Format der Sendung macht’s möglich. Für unser werktägliches Feuilleton „3sat Kulturzeit“ ist das literarische Leben Kernthema. Die Redaktion sendet mehr als 80 Beiträge und Gespräche im Jahr zur Literatur, neben weiteren 100 Buchtipps.
Nicht zu vergessen sind die hochwertigen filmischen Adaptionen von Literatur: Das ZDF übersetzt bedeutende literarische Werke in große Kinoproduktionen, die auch im Programm laufen, sowie in hochwertige Fernsehfilme: von Erich Kästners „Fabian“ (2021) bis zu Frank Schätzings „Der Schwarm“ (2022).
Fein, klingt aber alles nach Regelwerk. Muss der Programmauftrag, der ja Kultur explizit miteinschließt, nicht zu größeren Anstrengungen herausfordern?
Unsere größte Anstrengung gilt derzeit der Gestaltung unseres digitalen Kulturraums ZDFkultur, den wir vor zwei Jahren aus der Taufe gehoben haben. Von Anfang an im engen Austausch mit unseren Nutzerinnen und Nutzern, geben wir Kultur und Kunst im Netz und auf Social Media weitere Programmfläche. ZDFkultur ist ein Zusatzangebot, für das wir im Übrigen keinerlei Kultur im TV gekürzt haben. ZDFkultur spricht zudem auf Facebook und Instagram Menschen unter 40 Jahren an, die lineares Kulturprogramm oft kaum noch wahrnehmen.
Zum Glück ist es den öffentlich-rechtlichen Sendern mittlerweile erlaubt, exklusive Inhalte nur für die Mediathek zu produzieren. Diese Chance nutzen wir zum Beispiel für #BEATCovid, das jungen Musiker*innen in „Stay live“ eine neue Konzertbühne gibt. Newcomer aus Pop und Rock treffen in traditionsreichen Clubs auf Patinnen und Paten wie Bosse, Inga Humpe oder Udo Lindenberg. Die vom ZDF produzierten Konzertvideos können sie kosten- und rechtefrei weiternutzen. Und mit jungen bildenden Künstler*innen kuratieren wir ihre Corona-Erfahrungen in der digitalen Kunsthalle.
Das ZDF, speziell ZDFkultur, stellt Bücher vor. Der Servicegedanke regiert.
Das Tool „Dein Buch“ in der ZDFmediathek ist kein redaktioneller Service, sondern bewusst interaktiv konzipiert: Nutzerinnen und Nutzer suchen über verschiedene Auswahlkriterien ihre nächste Lektüre aus. Zugrunde liegt fundierte Literaturkritik: Die fast 500 Empfehlungen werden von renommierten Literaturexpert*innen ausgesprochen und begründet. Ausnahme ist das Kinderbuch: Hier kommen Mädchen und Jungen zu Wort. Sie sprechen kundig über ihre Leseerfahrungen. Wir bieten im Digitalen schließlich auch exklusive Lesungen an – von Herta Müller, Peter Schneider oder Judith Schalansky. Dort finden sich auch die vielen Gespräche auf dem „Blauen Sofa“ und zahlreiche Interviews zu Neuerscheinungen mit Andreas Isenschmid, Sandra Kegel oder Insa Wilke.
Literatur ohne Literaturkritik
Das „Literarische Quartet“ hat sich stark gewandelt, von der Literaturkritik ging es zum Gespräch über Literatur. Was ist damit besser geworden?
In neuer Formation interpretiert Thea Dorn das Quartett als „literarischen Salon“, diskutiert bedeutende Neuerscheinungen und ausgewählte Klassiker nach ästhetischen Kriterien, aber auch als substanziierte Beiträge zu aktuellen Debatten. Ihre Gäste stammen daher nicht nur aus der klassischen Literaturkritik. Eingeladen sind auch Autorinnen oder prominente Leser. Der Qualität des Diskurses hat die Weiterentwicklung keinen Abbruch getan. Im Gegenteil, es kann angesichts zunehmender Polarisierungen nur gut tun zu sehen, wie sich Debatten konträr, aber dennoch fachlich und fair führen lassen. Eine kluge Community streitet hier um das bessere Argument. Und Marcel Reich-Ranickis Losung gilt nach wie vor: „Literatur beginnt beim Vergnügen, bei der Lust.“ Er konnte bekanntlich fast alles ertragen, außer Langeweile.
Warum tut sich das ZDF mit der Literaturkritik, die es ja allenthalben in anderen Medien gibt, so schwer?
Es stellt sich die Frage, in welchen Formen sich Literaturkritik, die selbstverständlich zu unserem Programmauftrag gehört, in unserem Medium umsetzen lässt. Die klassische Rezension werden Sie tatsächlich kaum bei uns finden – uns scheint die Gesprächsform, der Dialog zwischen Expertinnen und Experten unterschiedlicher Ausrichtung, einem plural gewordenen Publikum angemessen. Womöglich ist das nachvollziehbarer als in der Buchbesprechung eines oder einer Einzelnen. Was bleibt, ist der unbedingte Anspruch, Kritik und Wertung nachvollziehbar zu begründen. Der Ehrgeiz richtet sich auch auf die bildliche Gestaltung, was „Aspekte“ und „3sat Kulturzeit“ in zeitgemäßer kreativer Weise zeigen.
Vernetzung mit anderen Sendern
Alles kann auffälliger und eindrucksvoller werden – wie will das ZDF in Programm und auf Plattformen die Literatur stärken?
Was wir noch besser machen wollen, ist die Vernetzung mit anderen Sendern und Institutionen. Der Podcast zum „Literarischen Quartett“ als Gemeinschaftsprojekt mit dem Deutschlandradio ist da ein guter Anfang. Die Sachbuchbestenliste mit der „Zeit“ und Deutschlandfunk Kultur führen wir fort, genauso den „Aspekte“-Literaturpreis für das beste literarische Debut sowie den „Mainzer Stadtschreiber“ zusammen mit 3sat und der Stadt Mainz. „Das Blaue Sofa“, unter anderem mit Deutschlandfunk Kultur, bauen wir angesichts der eingeschränkten Buchmessen kontinuierlich aus. Mit dem Goethe-Institut werden wir künftig gemeinsame Inhalte für unser Instagram- Angebot „Around the word“ herstellen.
Ist es für die ZDF-Kulturchefin vorstellbar, dass einem Literaturinteressierten die Anstrengungen nicht ins Auge springen?
Selbst Menschen, die eigentlich auf der Suche nach Serien oder Krimis sind, stoßen im ZDF bald auf Literatur: Wer etwa auf der Startseite der Mediathek das aktuelle „Literarische Quartett“ ansteuert, landet von dort aus mit wenigen Klicks im Literaturkosmos www.zdf.de/kultur/lesen. Er bietet aktuell knapp 3000 Minuten Lesefutter, geeignet zur persönlichen Orientierung und Auseinandersetzung mit einer großen Vielfalt an literarischen Stoffen und Sachbüchern. An unserem Kultur- und Literaturangebot ganz vorbeizusehen, kostet durchaus Anstrengung.
Die Fragen stellte Joachim Huber.
Anne Reidt ist Leiterin der Hauptredaktion Kultur im Zweiten Deutschen Fernsehen.