Ein Plädoyer: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss sich erneuern
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk verkriecht sich immer tiefer im Elfenbeinturm. Dabei müsste er sich vielmehr neu aufstellen und sich neu ausweisen. Ein Plädoyer für neue Agilität in digitalen Medienzeiten.
2001 unterzeichneten 17 Teilnehmer einer Art digitalen Tafelrunde ein „Manifest für agile Softwareentwicklung“. Darin proklamierten sie Flexibilität und enge Kundenbindung als Grundwerte digitaler Kommunikation. Diese seien wichtiger als die Auswahl der „Werkzeuge“ – sprich: von Produktionsweisen und Technik. „Reagieren auf Veränderung“ stehe über dem „Befolgen eines Plans“, lautet die abschließende Maxime des Manifests.
Der Appell zu individueller Kreativität zugunsten des Kunden, gegen eine Dominanz von Konventionen und Apparaten verzeichnet immer noch wachsenden Zulauf, und er war Ausgangspunkt einer Ringvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität, die Theorien und Praktiken der gegenwärtigen Medienentwicklung auf den Prüfstand von „Agilität“ stellte und auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einbezog.
Ist es überhaupt angemessen, den Zustand des „alten“ Rundfunks an dieser Elle zu messen? Zwar reimt sich Softwareentwicklung noch gerade auf Programmgestaltung. Aber scheitert ein Vergleich nicht schon daran, dass hier „Äpfel“ des traditionell analogen Rundfunks mit den „Birnen“ der digitalen Kommunikation verglichen werden, öffentlicher Rundfunkauftrag und wirtschaftliche Wertschöpfung scheinbar unauflösbar kollidieren. Sinn macht die Gegenüberstellung, wenn man sie als eine Art Benchmark versteht und fragt, ob und wie „agil“ Rundfunk heute sein könnte in einem umfassend digitalen Medienmarkt.
Seichte Formate und Inflation an Talkshows
In der hochgeregelten Rundfunkordnung spielten von Beginn an Konventionen und Auftrag eine dominante Rolle: Der Kulturauftrag und die Bestimmung als Instrument der Vermittlung des gesellschaftlichen Geschehens waren seine „Markenzeichen“ und bildeten gleichzeitig eine medienökonomische Kennzeichnung als „meritorisches Gut“, das sich eben nicht am Markt rechnet und deshalb von allseitig erhobener Gebühr lebt.
Wesentliche Teile einer programmlichen Souveränität und Innovationsfähigkeit hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk allerdings eingebüßt, als er in die Falle des dualen Rundfunksystems tappte und sich im Zielkonflikt zwischen der Marktfähigkeit eines Massenmediums und der Modernisierung eines öffentlichen Rundfunkauftrags zur Konvergenz verleiten ließ, sich in dieser Doppelbindung nicht etwa gegen einen Kommerzrundfunk profilierte, der zwar ebenfalls nicht die erhofften Innovationen durch den Markt gebracht hat, allerdings mit der Zeit den öffentlich-rechtlichen Rundfunk immer älter aussehen ließ.
Merkmale dieser Konvergenz sind oft genug aufgezählt worden: statt höherer Investitionen in einen investigativen Journalismus oder der Profilierung etwa im Bereich qualitativer Eigenproduktionen – die Verlagerung des Investments in Sport- und Filmrechte, die Überschwemmung des Programms mit seichten Formaten wie etwa der Inflation an Talkshows.
Traditionelle Programme sind publizistisch entkernt und veraltet
Der Integrationsauftrag, in Voll-Programmen begründet, verflüchtigte sich am Medienmarkt. Die traditionellen Leitprogramme verzeichnen ein zweifaches Defizit: Sie sind publizistisch entkernt und altern. Sie wagen Qualitätsproduktionen und hintergründige Information in der Regel nicht mehr zu einer Sendezeit, an der die meisten Zuschauer versammelt sind. Nachtstunden und Spartenprogramme bilden Reservate.
Das Bemühen, einen programmlichen Wechsel auf die digitale Zukunft mit neuen, jugendlicher orientierten oder höherwertigen digitalen Programm-Bouquets zu ziehen, lässt sich dabei durchaus als Übersprunghandlung bewerten. Und die Beteiligung am Internet mit einer den Printmedien ähnlichen Informations-Präsenz ist ein zusätzlicher Versuch, an der Medienzukunft zu partizipieren – anders gesagt: neue Plätze zu besetzen und jüngere Nutzer wieder für die alten Angebote zu interessieren.
Internetpräsenz und digitale „try outs“ auf die Medienzukunft mittels digitaler Programm-Schnellboote verstehen sich als Zeugnisse einer verfassungsrechtlich verbrieften Bestands- und Entwicklungsgarantie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Sie stellen aber keine Zeugnisse über den Kern eines Programmgeschehens aus. Dieser ist äußerlich geprägt von der Angst vor einer immer labileren Konsumentenhaltung und im Innern von der mangelnden Flexibilität wenig reformierbarer arbeitsteiliger Institutionen.
Journalisten fürchten Entprofessionalisierung des Berufs
Die beiden Hauptakteure, der Programmierer (Journalist) und der Kunde (Hörer, Seher), sind längst dabei, ihre angestammten Plätze zu räumen. Der Journalist, dem Max Weber zu Beginn des letzten Jahrhunderts sogar eine politische Rolle im gesellschaftlichen Prozess zuerkennt, hat lange die Leitprogramme der elektronischen wie gedruckten Massenmedien beherrscht. Aus dem sendungsbewussten Publizisten wird zunehmend ein Produzent von Stücken am elektronischen Markt, zukünftig im besten Fall ein „gatekeeper“ der wachsenden Informationsflut.
Heute befürchtet der Journalist die Entprofessionalisierung seines Berufes, muss sich in der endlosen Kette der Blogger behaupten. Fürchten muss er dabei um den Bestand eines ausgeprägten journalistischen Selbstverständnisses. In den hektischen Zyklus der Informationsvermittlung schleicht sich eine ganze Latte an Fehlentwicklungen journalistischer Standards: Schnelligkeit vor Sicherheit, die Gefahr der Desinformation, Sensations- und Betroffenheitsjournalismus, die Einflüsse der PR. Wobei der Zielkonflikt immer akuter wird. Die äußerliche Agilität, der schnelle Durchsatz von Information in der digitalen Kommunikation bringen den Journalisten immer mehr dazu, Information zu inszenieren, um nicht vollends von der digitalen Informationsflut überschwemmt zu werden.
Spricht man über Chancen, den Qualitätsjournalismus als Profession ins digitale Zeitalter zu transferieren, muss man wenigstens Pläne beispielhaft erwähnen wie die des Ebay-Gründers Pierre Omydyar, neue Massenmedien, Journalismus im Stil von Silicon Valley zu begründen, also die alten Institutionen ganz außen vor zu lassen, ein autonomes, ungebundenes Start-up des „agilen“ investigativen Journalismus zu versuchen. Der Konsument ist kein Stammhörer oder -zuschauer mehr, wartet nicht mehr auf eine Sendung. Podcast oder Video-onDemand sind erste Zugeständnisse an die Verfügbarkeit der Information.
Paradigmenwechsel von einer Rundfunk- zur Netzpolitik
Es fällt zunehmend schwer, jüngere, heranwachsende Nutzer zu kategorisieren. Sie konsumieren äußerst „agil“. Es herrschen kein Zwang mehr, keine Konformität, dagegen immer mehr Möglichkeiten der Partizipation. Nutzer haben mehr Macht bekommen, fast eine Binsenweisheit, die etwa die aktuelle Diskussion, ob die gegenwärtige Messung der Fernsehquote das Zuschauerverhalten noch repräsentativ erfasst, verblassen lässt.
So nimmt das Konstrukt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks immer mehr Züge einer geschlossenen Gesellschaft an und droht zum Paradefall einer Systemtheorie, der Autopoiesis zu werden, wonach sich eine geschlossene Institution gewissermaßen auf sich selbst zurückzieht, ihre Entwicklung und „Erfolge“ im Wege der Selbstbeförderung generiert und eine Inflation vorhandener Programme mit den Eckpfeilern Krimi, Kochen, Talk und dergleichen mehr betreibt. Niklas Luhmann hat diese vorherrschende Programm-Litanei so systematisiert: „Und so arbeitet auch das System der Massenmedien in der Annahme, dass die eigenen Kommunikationen in der nächsten Stunde oder am nächsten Tag fortgesetzt werden. Jede Sendung verspricht eine weitere Sendung. Nie geht es dabei um die Repräsentation der Welt, wie sie im Augenblick ist.“ Die Medien beziehen sich immer mehr auf die Medien selbst, das heißt auf endogene Quellen und weniger auf das medienexterne Umfeld.“
„Defensive ist Mist“ hat der Berliner Initiativkreis öffentlich-rechtlicher Rundfunk postuliert und festgestellt, dass angesichts der Debatte um die neue Rundfunkgebühr die Kritik am Zustand des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht mehr überwiegend interessendominiert geführt wird, sondern in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Gefordert wird: „Raus aus dem Elfenbeinturm.“ Dort lebt der öffentlich-rechtliche Rundfunk noch unangefochten dank seines gesellschaftlich gesicherten Rundfunkbeitrags, der absehbar auskömmlich bleibt.
Öffentlich-rechtliche Rundfunk muss sich neu aufstellen
Es scheint aber eine Frage der Zeit, wann die Gewährsträger des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einen Paradigmenwechsel vollziehen: weg von einer Rundfunk- hin zur Netzpolitik. Die Politik beginnt sich neu zu sortieren, Netzpolitiker sind im Vormarsch, die alte Rundfunkaufsicht hat sich längst überholt. Bis zum Sommer will die Bundesregierung sogar eine erste „digitale Agenda“ vorlegen, die im besten Fall die vorsichtig tastende Erkundung des Neulands Internet (Angela Merkel) durch die „Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft“ des letzten Jahres hinter sich lässt. Dann genügt es nicht mehr, scheinbar gesicherte Besitzstände des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einfach als Bestandteil einer digitalen Kommunikationsgesellschaft zu deklarieren.
Dann stellen sich Forderungen nach „Agilität“ und damit auch Fragen der Legitimation. Wo zukünftig Inhalt und Aufwand eines meritorischen Gutes liegen, wenn der pure Medienmarkt nicht hergibt, was die Gesellschaft an Rundfunk braucht: etwa eine neue Positionierung des kritischen, unabhängigen, hintergründigen Journalismus, eine entschiedene Teilhabe an der Wissensgesellschaft und modernen kulturellen Strömungen, soziale Orientierungshilfe und Begleitung, auch gesellschaftlichen Diskurs, sogar neue Integrationsaufgaben für multikulturelle Entwicklungen. Womöglich muss sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk im digitalen Zeitalter sogar einem neuen Wettbewerb um die Finanzierung von nicht kommerzieller gesellschaftlich gebotener Massenkommunikation stellen. Die zu schnell ad acta gelegte Idee einer öffentlich-rechtlichen Suchmaschine, aufgebracht durch Berlin-Brandenburgs Medienwächter Hans Hege, gab davon einen Geschmack.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss sich in einer digitalen Gesellschaft neu aufstellen, sich neu ausweisen.
Jens Wendland war von 1993 bis 2003 Hörfunkdirektor des SFB. Sein Text ist die gekürzte und überarbeitete Version eines Vortrages im Rahmen der Ringvorlesung „Agile Medien Agile Marken“ an der Berliner Humboldt-Universität.
Jens Wendland
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