Jungen und Mädchen als Opfer in Krimis: Den Kindern ist kein Himmelreich
Geschunden, entführt, vernachlässigt - das fiktionale Fernsehen erzählt so häufig wie nie vom Opfer Kind. Am Sonntag Abend zum Leidwesen von "Tatort"-Kommissarin Lindholm alias Maria Furtwängler.
Zumindest in unseren schöngeträumten Fernseherinnerungen bleibt die Zeit um Weihnachten alle Jahre wieder das Festival der erlösenden Kinder. Stellvertretend für alle sentimentalen Seligpreisungen der Jüngsten: die ritualhafte Wiederholung von „Der kleine Lord“ (1980), die wunderbare Herzenserweichung des verknöcherten Earls of Dorincourt (Alec Guinness) durch den unverlierbaren Enkelsohn Cedric (Ricky Schroder).
Zu diesem Jahreswechsel aber scheint alles anders zu sein. Kein Christkind, nirgends. Nur Jungen und Mädchen als Opfergestalten, auf deren Realität das Gegenteil der Jesusverheißung passt: Ihrer ist kein Himmelreich.
Ein stummes Heer von Elendsgestalten zieht demnächst über den Bildschirm, lauter Kinder oder noch halbe Kinder, denen eine kaltherzige Gesellschaft versucht, Vertrauen, Sprache, ja sogar die Tränen zu nehmen. Unterm medialen Jugendwahn breche eine Eiszeit an, behaupten die TV-Menetekel. Die Moderne sei dabei, ihre Zukunft fresse ihre Kinder.
Den Reigen der verzweifelnden Kinderseelen begann die dänische Fernsehserie „Borgen“, das Beste, was es via Arte in letzter Zeit zu sehen gab und das den dämlichen Titel „Gefährliche Seilschaften“ nicht verdient. Mitten in der flotten Schilderung der politischen Machtspiele von Premierministerin Brigitte Nyborg (Sidse Babett Knudsen) meldete sich existenzielle Verzweiflung, gegen die keine Tricks und Verdrängungen helfen. Es ist die Nachricht vom psychischen Zusammenbruch der Tochter Laura (Freja Riemann). Sie ist das armselig unschuldige Opfer von mütterlichem Ehrgeiz, scheidungsbedingtem Versagen der Eltern, dem ganzen süchtig machenden Politzirkus, den wir Zuschauer bis dato so unbeschwert genossen haben. Im Finale der jetzigen „Borgen“-Staffel am 13. Dezember ist Laura ein klinischer Fall.
Nicht nur im Staate Dänemark wird etwas als faul an den kindlichen Wurzeln des Menschen empfunden. Schlechtes Gewissen angesichts der Ausbeutung von Kindern und Mitleid gepaart mit Wut auf die Verursacher, setzen sich auch im deutschen Fernsehen durch.
Allein vier „Tatort“-Produktionen der ARD haben in dichter Aufeinanderfolge Verbrechen an Kindern zum Thema. Maria Furtwängler als Kommissarin Lindholm jagt in den als „Tatort“-Doppelfolgen konzipierten Filmen „Wegwerfmädchen“ (9. Dezember) und „Das goldene Band“ (16. Dezember) hinter Morden an blutjungen osteuropäischen Zwangsprostituierten her. Die Fratze der in die Schlagzeilen geratenen Hannoverschen Prominenz, halbseiden, gefühllos und selbstgefällig zugleich, spiegelt sich aufs Deutlichste in den bedrückenden Angstsymptomen der weggeworfenen Mädchen. Und selten versteinern die Gesichtszüge der blonden Polizeirächerin so hasserfüllt wie hier, wenn die Kommissarin die Folgen männlicher Gier nach jungen Mädchen erkennen und ertragen muss.
Machtlos - Der Untertitel sagt alles
Im ersten „Tatort“ des neuen Jahres, am 6. Januar, haben es die Berliner Kommissare Ritter (Dominic Raacke) und Stark (Boris Aljinovic) mit der Entführung eines Elfjährigen zu tun. Der Untertitel des Films beseitigt alle Hoffnungen auf Lockerheit und Ironie, der Untertitel sagt alles: „Machtlos“.
Für den „Tatort“-Kommissar-Novizen Devid Striesow hätte man sich bei seiner Premiere im Saarland etwas anderes vorstellen können, als das, was der Zuschauer in dem Film „Melinda“ (27. Januar) erlebt, vielleicht irgendetwas Schrulliges für den genialen Borderline-Darsteller, so in Richtung Münster-„Tatort“. Aber Striesow hat von der ersten Szene an mit dem Thema Kinderausbeutung zu tun. Regisseur Hannu Salonen schickt ihn an der Seite eines als Drogenkurierin missbrauchten Mädchens in eine schaurig realistische Märchengeschichte, die in Baumärkten, schäbigen Hotels und einem vergammelten Freizeitpark spielt und die alles Lachen ziemlich schnell vergehen lässt.
Ein ergreifendes Requiem auf ein ergreifendes Kinderschicksal ist die ZDF-Verfilmung des Charlotte-Link-Bestsellers „Das andere Kind“ (2. und 3. Januar). Die Geschichte spielt in England, und Regisseur Urs Egger und Drehbuchautor Stefan Dähnart gelingt mit Links starker Vorlage das Kunststück, einen Krimi und einen historischen Stoff durch die Tragödie eines vernachlässigten Kindes aufs Schrecklichste zu verbinden. Ein Junge, dessen Eltern und Geschwister bei einem deutschen Bombenangriff auf London ums Leben gekommen sind, schließt sich klettig und verstummt der aufs Land geschickten Fiona an. Der traumatisierte Brian wächst mit dem Mädchen auf einer Farm auf und erträgt alle Zurückweisung, besonders als sich Fiona in den Sohn ihrer Gasteltern verliebt.
Der Junge, das andere Kind, zerbricht an der Herzlosigkeit der unfreiwilligen Schwester, gilt als schwachsinnig und wird zu einem grausamen Nachbarn abgeschoben. Dem fabelhaften deutschenglischen Schauspielerensemble (Hannelore Hoger, Marie Bäumer, Fritz Karl, Bronagh Callagher, Raquel Cassidy) ist es zu verdanken, dass Mitleid, Hass und Blindheit in der Passion eines gequälten Kindes zusammenfließen.
„Operation Zucker“ (16. Januar) schließlich nach dem Buch von Philip Koch unter der Regie von Rainer Kaufmann ist alles andere als süß, sondern unter den Fernseh-Leidensgeschichten von Kindern der härteste Beitrag. „Ein Weckruf“ soll er nach dem Willen der Produzentin Gabriela Sperl werden. Er wird es werden. Wie Kinder aus Rumänien mit falschen Versprechungen nach Deutschland verschleppt und in wechselnden Bordellen in Berlin geschändet werden, wird mit brutalen, aber nie die kindliche Würde verletzenden Bildern gezeigt. Man muss in dem ARD-Film nur in das todernste Gesicht der zehnjährigen Fee (Paraschiva Dragus) blicken und weiß alles.
Kinder als Opfer sind unübersehbar als Katalysatoren für Erwachsenengeschichten entdeckt worden, die mit Ambivalenzen oft gerne spielen. Kinder aber lassen keine Zweifel an der Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu. Sie zwingen der Virtuosität des Bösen unüberschreitbare Grenzen auf. Sie haben sich zu Recht in den Mittelpunkt von Krimis und anderen Fernsehfilmen geschoben.
„Tatort: „Wegwerfmädchen“, um 20 Uhr 15, „Tatort: Das goldene Band“, 16. Dezember, 20 Uhr 15, beides ARD