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Wenn das Adrenalin pumpt. Die Geschichten im Real-Life-Format „Die Ruhrpottwache“ bei Sat 1 sind tatsächlichen Fällen nacherzählt.
© Sat 1

Reality TV in Deutschland: Dein Leben – unser Fernsehen

Mediales Volkstheater zwischen „Dschungelcamp“ und „Plötzlich reich, plötzlich arm“: Warum Reality-TV-Formate boomen.

Schlecht gekleidete, laut schreiende Menschen, die über Beziehungen, Familiengeheimnisse oder Geld streiten; Adoptivkinder, die tränenreich erstmals ihre biologischen Eltern umarmen; Mütter, die ihre Familien tauschen; Schuldenberater, die an einer Tafel Sparmöglichkeiten auflisten; Trödelhändler, die in Müllbergen nach vermarktbaren Gegenständen suchen; hässliche Menschen oder Bauern bei der Partnerinnensuche; Übergewichtige bei Abnehmversuchen; Designer, die ironisch die Kleidungskäufe und das Make-up von Frauen kommentieren; Handwerker, die Häuser renovieren; das Luxusleben von Millionärsfamilien, erfolgreiche oder erfolglose Auswanderungsversuche. Und selbst diese bereits endlos erscheinende Beispielkette der Wirklichkeit, die das sogenannte Reality TV jeden Tag den Zuschauerinnen und und Zuschauern präsentiert, ließe sich noch weiter fortführen.

Die von Programmverantwortlichen und Produzenten als Reality-TV bezeichnete Form der Fernsehunterhaltung bildet einen Schwerpunkt senderübergreifender Programmentwicklungen seit den frühen 1990er Jahren. Hier führt das Medium seine Schwerpunkte Erzählen und Beobachten zusammen. Das ursprüngliche Versprechen des Fernsehens der 1950er Jahre, als Fenster zur Welt zu fungieren, verwandelte sich schrittweise zu scheinbar direkten Einblicken in private Lebenswelten. Für das Publikum unsichtbar bleibt die Inszenierung durch sogenannte Realisatoren, die ihren Laiendarstellern vorgeben, wie sich verhalten sollen und was sie zu sagen haben.

Mediale Grenzüberschreitungen Richtung Social Web

Im Rahmen der wachsenden Konkurrenz mit Bewegtbildangeboten des Internets versuchen Produktionsunternehmen und Programmverantwortliche der Sendeanstalten die Erlebnisdimensionen und Wirkungspotenziale ihrer Sendungsangebote zu optimieren. Mediale Grenzüberschreitungen zwischen dem Fernsehen und dem Internet bilden unter anderem die Präsenz von Reality-Darstellerinnen im Social Web.

Reality-TV-Formate kombinieren fiktionale Erzählstrukturen, dokumentarische Konzepte und Darstellungsformen (direkte Beobachtung mit einer bewegten Kamera) zumeist mit Laiendarstellerinnen und erzielen so einen hohen Authentizitätseindruck. So glauben viele im TV-Publikum, „Mitten im Leben“ (RTL) der Menschen zu stehen. In den Themenschwerpunkten der Realityformate werden Traditionslinien von Kerninhalten unterschiedlicher Massenmedien kombiniert. So schließen Themen wie „Das Leben der Stars“ oder „Lifestyle“ an das etablierte Angebotsspektrum des Boulevardjournalismus an, während zwischenmenschliche Beziehungen, Gesundheit, Schuld und Sühne an etablierte Masterplots von Kinospielfilmen oder fiktionalen Serien erinnern. Coaching-Formate wiederum lassen sich der Traditionslinie von Ratgebersendungen oder -zeitschriften zuordnen. Talkshows der 1990er Jahre gelten als wichtige Vorläufer der Fernsehpräsenz nichtprominenter Menschen.

Diese Themenschwerpunkte, aber auch dramaturgische Elemente etwa im Bereich „Confrontainment“ werden wie Bausteine in wechselnden Formatzusammenhängen miteinander kombiniert. Flirtformate „Einsam unter Palmen“ (RTL) oder „Adam sucht Eva – Gestrandet im Paradies“ (RTL) kombinieren beispielsweise die Elemente Flirt, Liebe und Auswanderung und nutzen die visuelle Attraktivität exotischer Handlungsorte. Erfolgsformate wie „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“ (RTL) beinhalten vielfältige Mischungen zwischen Fiktion, Dokumentation und Unterhaltung. Das attraktiv exotische Setting diverser Dschungel- und Tarzanfilme bildet den Rahmen für ein Pseudo-Sozialexperiment mit Prominenten, das dem Dauerbeobachtungsprinzip der 2000 erstmals ausgestrahlten Show „Big Brother“ unterliegt und von selbstironisch humorvollen Kommentaren eines Moderatorenduos begleitet wird. Neben Spielelementen aus Gameshows werden auch Elemente des Liebesfilms in das „Dschungelcamp“ integriert. Das von einer britischen Produktionsfirma ausgestattete australische Dschungelstudio bildet die Bühne für ein mediales Volkstheater mit einem aus unterschiedlichen Populärkultur- und Medienbereichen zusammengesetzten Ensemble. Diese Hybridisierung von Elementen aus bisherigen kulturellen und medialen Ausdrucksformen bildet die Grundlage eines besonders breiten Attraktionspotenzials, das sich in hohen Quoten manifestiert.

Ein Pakt zwischen Zuschauern und Produzenten

Die Zuschauer gehen mit den Produzenten einen impliziten Pakt ein, die gezeigte Geschichte für die Dauer ihrer Ausstrahlung als real zu akzeptieren. Dies gibt ihnen auch die Möglichkeit eines sozialen Vergleichs etwa mit dem Leben von Hartz-IV-Empfängern oder Millionären etwa in „Plötzlich reich, plötzlich arm - Das Tauschexperiment“ (Sat 1). Der Pakt erhöht den Informations- und Erlebniswert des Gezeigten.

Anhand von Formaten wie „Germany’s Next Topmodel“ (Pro Sieben) lässt sich zeigen, dass gesellschaftliche Ideologien wie der Neoliberalismus in Jury-Entscheidungen verpackt („Du darfst die Anweisungen deines Auftraggebers nicht hinterfragen“) und so implizit an die ZuschauerInnen vermittelt werden. Alles komme, so suggeriert es das Format, auf die Leistungsbereitschaft des Einzelnen an. Reality-TV-Formate beinhalten auch das implizite Potenzial, durch die mediale Darstellung des Alltäglichen eine Akzeptanz von Überwachungstechnologien und damit verbundenen Machtkonstellationen zu erzeugen.

Reality- TV bildet auch eine Zwischeninstanz zwischen dem traditionellen Fernsehen und neuen Bewegtbildangeboten des Internet. So lassen sich die vielfältigen Inszenierungen von Privatheit im Reality-TV einerseits als Vorbereitung von Praktiken der Selbstdarstellung auf Onlinemedien, andererseits auch als Konkurrenzstrategie gegenüber Plattformen wie YouTube, YouNow und weiteren Angebotsformen des Social Web werten.

– Joan Kristin Bleicher: Reality TV in Deutschland. Geschichte – Themen – Formate. Avinus Verlag, Berlin 2018, 456 Seiten, 58 €

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