Medien: Das weiße Lauschen
Wer hat heutzutage zehn Stunden Zeit, neun CDs am Stück zu hören? Von Regisseur Klaus Buhlert stammt das wohl längste Hörspiel der Welt. „Moby Dick oder der Wal“ ist für den Deutschen Hörbuch Preis nominiert. Ein bisschen was von Dieter Bohlen ist auch dabei
Eine klare Vollmondnacht. Draußen auf dem Atlantik, 1000 Meilen vom Festland entfernt. Alleine am Steuer eines Zweimasters. Plötzlich vorm Bug: etwas Inselartiges, die Reflexion des Mondlichtes auf einem schwarzen Schatten, der sich von der Wasseroberfläche abhebt. Das unheimliche Glitzern bewegt sich auf den Steuermann zu, seine Mannschaft schläft unter Deck. Er denkt: „Ein Wal! Wenn ich jetzt den Motor anwerfe, und der Wal vor Schreck seinen Schwanz bewegt, fliegen wir zehn Meter durch die Luft. Dann ist es aus.“ Es war nicht aus. Der Wal tauchte ab, Segler und Boot erreichten die USA. Wem so eine Geschichte passiert, schreibt sie entweder gleich in sein Tagebuch, macht ein Gedicht draus oder später das vielleicht längste Hörspiel der Welt.
Die Geschichte ist 20 Jahre her. Der Steuermann heißt Klaus Buhlert. Man muss den Namen nicht kennen. Aber würde der Regisseur fürs Fernsehen arbeiten, hätte er sicher schon Grimme-Preise gewonnen. So läuft es womöglich auf den Deutschen Hörbuch Preis hinaus, der heute erstmals in Köln vergeben wird. Womit wir wieder beim Wal wären. Klaus Buhlert produziert keine Kassenschlager. Nichts gegen „Harry Potter“, „Herr der Ringe“ oder Dieter Bohlen. Doch Buhlert macht lieber Hörspiele aus den ganz schwierigen Büchern, die eigentlich gar nicht zu spielen sind. Aus dem Gilgamesh-Epos, aus Arno-Schmidt-Romanen oder eben aus der größten Wal-Geschichte aller Zeiten: aus „Moby Dick“. Auch wenn Buhlerts „Moby Dick oder Der Wal“ keinen Hörbuch Preis bekommt – es ist eine der herausragenden Hörbuchproduktionen des vergangenen Jahres, laut Preis der deutschen Schallplattenkritik.
Die Story hat jeder schon mal gehört: vom Kapitän Ahab, dem der weiße Wal ein Bein raubt und der seine Mannschaft auf der Jagd nach Moby Dick in den Untergang schickt. 900 Seiten ist das Buch dick. Endlose Absätze über das Wesen des Walfangs, des Menschen, der Farbe Weiß, hin und wieder unterbrochen von Handlung und Dialogen. Das Ganze hat mit Hörspiel so viel zu tun wie das Alte Testament mit dem „Wort zum Sonntag“. Herman Melville, sein Schöpfer, sagte, das sei besser „im Kopf eines Mannes aufgehoben als in einem Kalbsledereinband“.
Jetzt, Monate nach dem letzten Schnitt, mit den Erfolgen von „Moby Dick“ im Radio und Handel, jetzt, wo Buhlert davon erzählen soll, wie er Menschen dazu bringt, sich nicht nur einen Kalbsledereinband, sondern ein 10-Stunden-Hörbuch zu kaufen, jetzt kann Buhlert gar nicht genau sagen, was stärker war, was schlimmer: der echte Wal draußen auf dem Meer oder die Arbeit im Tonstudio. Die vergangenen zwei Jahre, Tag für Tag, Nacht für Nacht im abgeschlossenen Raum, das Verfolgen einer Vision. Der Einsatz von Schauspielern wie Manfred Zapatka oder Rufus Beck, das Geräusche-Sammeln, vom Walgesang über echte Opernsänger hin zum Stapel nasser Zeitungen, die klingen sollen wie eine Axt, die durchs Walfleisch hackt. Jetzt blickt der Regisseur aus seinem Tonstudio in einem Friedrichshainer Hinterhof, als ob er all diese Geräusche draußen greifen könnte: „Bei so einer Produktion überquert man den Ozean, muss den ganzen Haushalt mitnehmen. Das hat mich fast krank gemacht“.
Mit diesem Aufwand könnte Klaus Buhlert zum Dieter Wedel des Hörspiels werden. Drei „Moby Dick“-Übersetzungen hat er gelesen, sich Jahrzehnte mit dem Mythos beschäftigt. Mit der Action-Verfilmung von John Huston, 1956. Mit Radiofassungen. Mit den RAF-Häftlingen in Stammheim, die sich Decknamen aus dem Buch gaben. Holger Meins war „Starbuck“, Andreas Baader „Ahab“. Selbst entlegene Ereignisse wie der Freitod seines Freundes Ulrich Wildgruber, der sich bei ansteigender Flut ins Wattenmeer setzte, führten Buhlert an etwas heran, was in der Geschichte der Medien so schnell nicht zu überbieten sein dürfte. Eins war ihm klar: Das sollte kein Film sein. „Beim Film muss man keine Bilder herstellen, man adaptiert sie. Die eigen evozierten Bilder sind die interessantesten Phänomene des Universums. Ich bin fasziniert vom weißen Rauschen, der Vielschichtigkeit der Welt, die entsteht, wenn man alle Hörspiele zusammen abspielt.“
Für solche Ansichten und zehnstündige Hörbücher muss man wohl auch ein bisschen verrückt sein, monoman. Kein Wunder, George Tabori war Buhlerts „Ziehvater.“ Mit dem eigenwilligen Regisseur zog der Diplomand der Musik, Akustik und Informatik in den 80er Jahren durch halb Europa. Mit Bühnenmusiken für Tabori kam Buhlerts Liebe zum weißen Rauschen. Theater, Hörspiel, Film, über 70 Buhlert-Kompositionen gibt es, darunter Titel für Oliver Stones „Natural Born Killers“ und Hörspiele des Jahres. Irgendwann war die Zeit reif für öffentliche Aufmerksamkeit. Das Hörspiel wurde vom Massenpublikum wieder entdeckt. Die Branche verzeichnet steigende Umsätze, 60 Millionen Euro im Jahr. Hörbücher laufen in Kinderzimmern, Kulturradios, sogar in Clubs.
Dahin würde Klaus Buhlert mit seinem „Moby Dick“ eher nicht gehen, auch wenn er mit den jungenhaften Augen, Rollkragenpullover und Lederjacke jünger aussieht als 53. Lieber legt er das Hörspiel zu Hause auf, für seine zweijährige Tochter. Erzählt ihr, wie der „Fisch“ nach oben kommen muss, um zu atmen. Dann vergisst er auch, dass man mit Hörspielen à la Buhlert kein Superstar werden kann. „Es ärgert mich, wenn Dieter Bohlen 200 000 Exemplare verkauft.“ „Moby Dick“ liegt bei 5000. Immerhin, Bohlen und Buhlert haben auch was gemeinsam: „mit einem Projekt gelebt, ständig geschrieben, gestrichen, gelitten.“ Und mit einem Soundtrack für „Natural Born Killers“ komme schließlich „ganz gut was rein“.
Vielleicht sind neun CDs eine Zumutung für den Hörer, ein Ego-Trip des Regisseurs. Vielleicht gewinnt Klaus Buhlert keinen Hörbuch Preis. Vielleicht ist „Moby Dick“ zu lang. Vielleicht ist aber gerade das der Reiz, in diesen beschleunigten Zeiten. Andy Warhol hat mal acht Stunden Film auf das Empire State Building gehalten. „Moby Dick dauert gerade eine Stunde mehr. Die richtige Begleitung für eine Zugfahrt nach Italien. Oder einen Atlantikflug nach Nantucket.
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