Quälerei in der Schule, Qual in der Familie: Das Schlimmste wartet noch
"Neufeld, mitkommen!": Der ARD-Film schildert, was Mobbing in der Schule in den Familien anrichtet. Der Film basiert auf einer Tagesspiegel-Reportage, die Sie hier finden.
Der Fernsehfilm ist ungewöhnlich. „Neufeld, mitkommen!“ zeigt kaum Interesse an der Tat und an den Tätern. Er beginnt nach dem Prozess und mitten in der betroffenen Familie. Nick Neufeld (Ludwig Skuras) ist von seinen Mitschülern gequält und misshandelt worden. Er hat seine Peiniger benannt, sie sind – nach den Vorgaben des Jugendrechts – milde bestraft worden. Vorbei ist vorbei, gesühnt ist gesühnt? Nicks Mutter (Christina Große) will nichts unter den Teppich gekehrt sehen. Sie möchte eine Dienstaufsichtsbeschwerde, die Lehrer verklagen, die Eltern der Peiniger stellen. Denn Nick soll in die alte Klasse zurück. Er weigert sich, kriecht in sich hinein. Die Mutter findet keinen Zugang, der Vater (Ole Puppe) – „Das Schlimmste ist doch jetzt vorbei“ – auch nicht. Jeder in der dreiköpfigen Familie ist auf seine Art verzweifelt, jeder sucht einen anderen Neubeginn.
„Neufeld, mitkommen!“ basiert auf einer Reportage, geschrieben von Jana Simon, erschienen im Tagesspiegel. Simon hat mit Kathi Liers auch das Drehbuch geschrieben. Sie wollen Introspektion und Konzentration: Dramatik ohne das Drama der Tat, Qual ohne Quälerei, Realismus ohne Spekulation. Durch die Entscheidung, das Geschehen nach Tat und Urteil zu starten, durch den Entschluss, die Tat nur kurz zu berichten und nicht bildlich auszuwalzen. Da geschieht etwas im Unterholz der Gesellschaft, jeder Überbau wird weggelassen.
Die Regie von Tim Trageser präferiert den Alltagston. Die Familienfiguren tragen den Film, indem aus ihren Figuren heraus erzählt wird. Ihre Seelen sind verwundet, wo die kleinstädtische Umgebung nach Vogel-Strauß-Manier Ärger und Aufarbeitung überspringen will. Die Mutter akzeptiert das nicht. Beate ist im Ausnahmezustand, weil sie das bemerkt und sich vorhalten muss, dass auch sie nichts bemerkt hat. Furor, Anschuldigungen, Finger tief in die Wunde, das Allein-Kämpfen weitet sich zum Alleinsein. Vater Martin zieht aus, die Distanz zu seiner Frau ist gewachsen, der Sohn unnahbar.
Nick geht zur Psychologin (Tina Engel), da findet er Ansprache und Zuspruch. Und sie weiß auch für die sich im Kreis drehende Mutter eine neue Perspektive: Sie soll sich nicht länger fragen, wie es geschehen konnte, sie soll sich fragen, wie Sohn, Mutter, Vater das Geschehene überstehen können. Nicks allmähliche Rückkehr in die Familie wird die Familie wieder zu sich finden lassen. Die Neufelds fahren weg, die Klasse fährt weg. Kommando im Bus: „Lenz, mitkommen!“
Es bleibt ein erstaunliches, mutiges Vorgehen, wie sehr „Neufeld, mitkommen!“ in seiner Verhaltensdramaturgie ein allgemeingültiger Film sein will. Niemals zeigt er mit dem Finger auf die Protagonisten, stattdessen will er zeigen: Es kann jeden treffen. Und schon ist die Herausforderung für den Zuschauer hergestellt.
Ludwig Skuras spielt Nick als beeindruckende Kapsel-Existenz, ein Junge, der sich selbst von Vater und Mutter übersehen und nicht genug geschützt fühlt. Die Mutter, das ist Christina Große, der Vater, das ist Ole Puppe. Das sind bisher keine allzu großen Schauspielernamen. Was ein Vorteil ist: Kaum ein Zuschauer wird, wenn er ihrer Figuren angesichtig wird, bestimmte Erwartungen hegen. Auch das unterstreicht die Verbindlichkeit. Der Anfang konditioniert nicht das Ende. Der Zuschauer nimmt an einer Entwicklungsreise teil. Große und Puppe spielen, schwer genug, Alltag. Und diesen so glaubwürdig, dass der Zuschauer nicht auf Distanz geht, sondern Nähe erlebt.
Lesen Sie hier die Reportage "Keine Schule fürs Leben" von Jana Simon.
„Neufeld, mitkommen!“, ARD, Mittwoch, 20 Uhr 15
Joachim Huber
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