Medien: Das innere Auge
Im „Polizeiruf“ aus München sorgt Udo Kier in der Rolle des Profilers für Durchblick
„Das Böse lauert immer und überall“, stellten die Alpenrocker der „Ersten Allgemeinen Verunsicherung“ fest. Ausgerechnet der „Polizeiruf 110“ aus dem föhngleißenden München mit dem Ermittlerduo Jürgen Tauber (Edgar Selge) und Jo Obermaier (Michaela May) hat sich diese fatalistische Erkenntnis als ästhetisches Prinzip gewählt. Während ihre Kollegen in Mecklenburg-Vorpommern versonnen auf eine aufblasbare Gummipuppe blicken, die im Hafenbecken treibt, oder in der guten Luft von Bad Homburg ihrem Privatleben frönen, herrscht in der bayerischen Landeshauptstadt bedrückende Düsternis. Ein allgegenwärtiger November hat sich tief in die Gemüter gesenkt, wie bereits in Dominik Grafs ähnlich brutaler Folge „Der scharlachrote Engel“ über die todbringende Liebe via Internet.
Ihr zwölfter gemeinsamer Fall „Mit anderen Augen“ (Buch: Christian Limmer) führt die beiden Hauptkommissare an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit: Sie fahnden nach einem Serienmörder, der es auf alleinstehende, wenig attraktive Frauen mit Behinderungen abgesehen hat. Seine Opfer waren Kellnerinnen oder Stammgäste im „Singleschuppen“ Romantica, wo sich verzweifelt Suchende über die Tanzfläche schieben. Offenbar muss der Täter Fachkenntnisse als Chirurg oder Metzger haben, denn er präsentiert den stets zu spät kommenden Ordnungshütern seine ausgeweideten Opfer wie auf wechselnden Hausaltären. Auf das Katz-und-Maus-Spiel reagieren die Kommissare je nach Temperament: Der einarmige Jürgen Tauber flüchtet sich in Zynismus und verfolgt vergeblich einen anderen Einarmigen. Jo Obermaier wiederum beginnt, ihren zupackenden bayerischen Humor zu verlieren. Als Mutter einer 19-jährigen frischverliebten Tochter, die es allabendlich ins Kino zieht, ist sie besonders beunruhigt: „Es ist nicht sicher da draußen“, schärft sie ihr ein. Das namenlose „Es“ zieht sich immer enger um die Familie Obermaier selbst, was die Spannung fast unerträglich steigert.
Die Rettung aus der Dauerdepression kommt in einem verfallenen Wohnmobil direkt aus Chicago, der angeblichen Hauptstadt des Verbrechens. „Ich muss mich erst anziehen“, sagt der „Profiler“ Heinrich Zermahlen müde und unrasiert zu seinen Kollegen, als sie an die Tür seines Gefährts klopfen. Das ist die einzige Szene, in der Udo Kiers berühmter intensiver Blick noch nicht seine ganze Strahlkraft entfaltet – jener Blick, der zwischen Blaugrün und Blaugrau changiert und durch Produktionen mit Fassbinder oder Lars von Trier Filmgeschichte geschrieben hat. Udo Kier und der italoamerikanische Regisseur Buddy Giovinazzo, der seinen zweiten „Polizeiruf“ in ein kunstvolles Gleichgewicht aus Spannung und Momenten der Erleichterung durch teils schräge Gags bringt, hatten schon seit Jahren auf eine Gelegenheit zur Zusammenarbeit gewartet. „Die anderen Augen“, das sind ganz und gar Udo Kiers Augen, die sich vom sachlichen Adlerblick des Kommissars Tauber diametral unterscheiden.
Ein Duell beginnt, zwei Ermittlungstechniken prallen aufeinander: Intuition und freie Assoziation kontra tatsachengestützte Analyse, amerikanisches Anything-goes gegen deutsche Gründlichkeit. Doch angesichts der Gefahrenlage sind Konkurrenzkämpfe fahrlässig verschwendete Zeit, wie Jo Obermaier mit weiblicher Vernunft erkennt. Da ist es schon fast zu spät. Nach seiner Angst vor dem Tod befragt, antwortete der Exzentriker Udo Kier dieser Tage in einem Interview: „Wenn ich wiedergeboren würde, wäre ich gern ein Stuhl von Arne Jacobsen, der mit Öl eingerieben wird, damit er geschmeidig bleibt.“ Dieser dank Kiers schauspielerischer Präsenz außergewöhnliche „Polizeiruf 110“ gibt mehrfach Anlass zu solchen Überlegungen.
„Polizeiruf 110: Mit anderen Augen“; ARD, 20 Uhr 15
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