Medien: Das Gesetz der Serie
Wer Soaps sieht, ist glücklicher, heißt es bei einer Ausstellung im Filmmuseum Potsdam. Wie glücklich sind Autoren solcher Soaps? Ein Besuch bei Marcus Hertneck, Autor bei der „Lindenstraße“
Man muss sich Marcus Hertneck als glücklichen Menschen vorstellen. Und das liegt nicht nur an seinem kleinen Sohn oder dem schönen Garten vor seiner Wohnung in Potsdam. Nein, das hat mit dem Fernsehen zu tun, genauer gesagt, mit Fernsehserien, mit den so genannten Soaps.
Die wichtigste und erfolgreichste Soap im deutschen Fernsehen ist die „Lindenstraße“, und für die schreibt Hertneck Drehbücher.
Wie Helga Beimer Weihnachten feiert, Schwule heiraten oder der stotternde Hajo Scholz Detektiv spielt – Medienforscher sagen, so was zu sehen mache glücklich. Serienkonsumenten seien glücklicher als Menschen mit anderen Fernsehgewohnheiten. Ein schöner Gedanke. Warum soll das nicht auch auf Menschen wie Marcus Hertneck abfärben, die diese Serien schreiben? Die sich tagein, tagaus damit beschäftigen, wie die „Lindenstraße“ und all die anderen erfolgreichen Soaps in Deutschland am Laufen gehalten werden. Die Figuren verschieben, verknüpfen, zum Leben erwecken. Die sich überlegen, wie verlorene Eltern wiederkehren, Schwangerschaften tragisch verlaufen oder wie sich der Liebhaber als der eigene Bruder entpuppt. Die Geschichten am Fließband schreiben, Storys um Liebe, Sex, Intrigen, Trauer, Freude, Freundschaften und Glück. Geschichten, die Abend für Abend, Woche für Woche beim Bügeln oder Tütensuppenessen wegkonsumiert werden. Soaps sind eine Art zweite Wirklichkeit für rund sechs Millionen Menschen in Deutschland.
Soaps machen süchtig, klar. Aber machen Soaps glücklich? Marcus Hertneck rührt in seinem Kaffee, zündet sich eine Zigarette an. „Doch, schon, man muss ja was Positives wollen, wenn man anfängt, für so eine Serie zu schreiben. Man muss vermitteln, dass alle Probleme lösbar sind. Man muss die Figuren mit Liebe losschicken.“
Das klingt fast wie eine Regierungserklärung. Mit Liebe losschicken. Alle Probleme sind lösbar. Erfolgreiches Fernsehen kann so einfach sein. Vielleicht ist das klassische Soap-Muster – neben Fußball und „Wetten, dass…?“ – das Einzige, was dauerhaft funktioniert im deutschen Fernsehen: Normal wirkende Menschen erleben im normalen Ambiente die wildesten Dinge. Jedenfalls müssen sich die Macher von „Unter uns“, „Verbotene Liebe“, „Marienhof“, „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ und der „Lindenstraße“ keine großen Quoten-Sorgen machen. Soaps haben mit ihren schnell gestrickten Variationen zu den Themen Liebe, Tod und Freundschaft die Akzeptanz von Spielfilmen überrundet. Sie sind mit ihren Fan-Zeitschriften, Internet-Foren und der permanenten Anwesenheit in den Wohnzimmern Teil des Alltags geworden.
Kein Wunder, dass das auch das Filmmuseum Potsdam beschäftigt. Die aktuelle Ausstellung „Daily Soap – der Weg zum Glück. Eine Kulturgeschichte der Seifenoper“ ist ein Publikumserfolg, nicht nur für Schulklassen und Hardcore-Fans, die an Erinnerungsstücken, Original-Sets und alten Serienbekannten in Lebensgröße vorbeischlendern. Es ist offenbar zutiefst menschlich und gar nicht so neu – das Medienphänomen Seifenoper. Es hat schon vor Jahrhunderten begonnen, mit den zyklischen Erzählungen aus „Tausendundeiner Nacht“. Dann, um 1930, die erste maschinelle Produktion, als US-Radio-Soaps zur Unterstützung der Waschmittelindustrie (daher auch der Name) eingesetzt wurden. Schließlich der vorläufige Höhepunkt nach der Erfindung des Privatfernsehens: mit Teenagern, die ausflippen, wenn Oli P., Jeanette Biedermann, die Stars aus „Gute Zeiten, schlechten Zeiten“, oder Mutter Beimer vorbeilaufen.
Wenn Marcus Hertneck im Café sitzt, flippt niemand aus. Dabei würde es Mutter Beimer ohne ihn gar nicht geben. Hertneck schreibt seit diesem Sommer mit an der „Lindenstraße“. Er sitzt fest mit im Autorenteam um Produzent Hans W. Geißendörfer. Als dieser im Dezember 1985 die deutsche Version der englischen Dauerserie „Coronation Street“ auf den Bildschirm brachte, konnte Hertneck nicht ahnen, dass er selbst einmal am Glück und Elend der deutschen Fernsehfamilie mitstricken würde. Um gute Geschichten zu schreiben, heißt es, braucht es eigene Niederlagen und Narben. Die hat sich der 40-Jährige geholt, nicht nur bei eigenen Lieben und Freunden, sondern auf dem langen Weg vom freien Journalisten-Dasein über ein Jahr Drehbuchwerkstatt, erste Scripts beim RTL-2-Flop „Alle zusammen“ bis hin zu „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, dem Marktführer unter den Daily Soaps. Hier, bei der Soap-Schmiede Grundy/Ufa, lernte Hertneck das Gesetz der Serie kennen. Von wegen Traumfabrik. Ein Soap-Autor setzt sich nicht wie Steven Spielberg hin und schreibt völlig losgelöst seine Geschichte. Ein Soap-Autor muss sich fragen: Wie schreibe ich Dialoge für 30-Sekunden-Szenen? Was haben mir die Storyliner an Inhalten vorgegeben? Welcher Schauspieler will sich rausschreiben lassen? Wie lernt X im Studio Y kennen? Jedes Thema tausend Mal gerührt.
Hertneck stöhnt, wenn er an die Entstehung mancher Bücher denkt. „Als Industrieschreiber kann man ganz schön ausbrennen.“ Aber auch ganz schön was bewirken. Serienautoren seien es, die heute die Arbeit eines Balzac, Dumas oder Dickens erledigen, sagt der Journalist Harald Keller. Da stellt sich die Frage: Wie viel Welt, wie viel Wirklichkeit vertragen die Konsumenten? Wenn man Marcus Hertneck über „Pop-Dialoge“, den Philosophen Sokrates oder den „Zusammenbruch sämtlicher Sozialsysteme“ reden hört, lässt sich vom Format „Lindenstraße“ noch einiges erwarten, das über verlorene Eltern und Plätzchen hinausgeht.
Im fünfköpfigen Autorenpool um Übervater Geißendörfer, in dem Hertneck sitzt, werden die Grundgeschichten geschrieben. 2003 geht das Format in sein 18. Jahr, wird quasi volljährig. Die 1000te Folge, Anfang 2005, ist schon im Blick. Im Gegensatz zu den Daily Soaps wollte die einzige wöchentliche Seifenoper immer ein Stück deutsche Republik widerspiegeln und hat das gegen politische Widerstände auch oft genug getan. Als mit Helmut Kohl 1998 der Lieblingsgegner abhanden kam, schwächelten die Geschichten aus Köln-Bocklemünd, neue Ideen wurden gesucht, auch neue Autoren. Marcus Hertneck ist einer von ihnen.
Wenn man ihn fragt, wie seine Lieblingsfolge „Lindenstraße“ aussehen würde, rückt er mit dem Oberkörper nach vorne, überlegt kurz. „Warum soll gerade die ,Lindenstraße’ nicht neue Nachbarschaftsmodelle entwickeln, neue Formen der Solidarität, jenseits von Parteien? Das große Thema Neue Armut, das ist eine Riesenchance.“ Wie das konkret aussehen soll, darf der „Lindenstraßen“- Autor vertragsgemäß nicht verraten. Wer weiß, vielleicht muss Carsten Flöter bald alle Nachbarn umsonst operieren, Mutter Beimer macht eine Senioren-WG auf, weil die Rente nicht mehr reicht, und der Bundeskanzler schaut sonntagabends interessiert zu.
Jenseits der 30-Sekunden-Dialoge hat auch Hertneck einen Traum. Irgendwann will er selbst einen 90-Minüter ins Kino bringen – ohne Gesetz der Serie, ohne Soap-Maschine, ohne Glücksversprechen. Mit Unterwasseraufnahmen, Schneelandschaften, dem ganzen Programm. Jetzt geht er sich erst mal die Potsdamer Ausstellung ansehen. Wege zum Glück.
Die Welt der Soaps im Internet: www.filmmuseum-potsdam.de
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