Die "Abendschau" wird 60: Begegnung um halb acht
Karas, Kock und Karikaturen: Für viele Berliner ist die Fernseh-Institution "Abendschau" ein Teil ihres Lebens.
Erwarten Sie hier bitte nichts Objektives. Es kann gut sein, dass ich die erste SFB-„Abendschau“ 1958 live gesehen habe, vor allem, um noch nicht ins Bett gehen zu müssen, und ich habe seitdem 60 Jahre lang mit schwankender Intensität sicher Tausende von weiteren Sendungen verfolgt, mal gespannt, mal amüsiert, mal gelangweilt. Die „Abendschau“ ist also Teil meines Lebens, und ich kann sie deshalb genauso wenig mit Distanz betrachten wie ein Familienmitglied.
Klar, zur Kritik gibt es vermutlich tausend Gründe, meistens hört man, die Sendung sei irgendwie provinziell. Viele hätten lieber, dass sie live aus dem Berghain übertragen wird, den Regierenden Bürgermeister stürzt, regelmäßig verbrecherische arabische Clans auffliegen lässt, über den Umzug von Dax-Konzernen nach Berlin berichtet und eine Standleitung in die Staatsoper pflegt. Was natürlich alles nicht geht. Keine Regionalsendung weltweit macht so etwas, dazu sind sie auch nicht da.
Und ein in allen Spreewässern gebadeter Musikdampfer wie die „Abendschau“ kann (und sollte) ohnehin nicht in eine Rennyacht umgebaut werden, weil die meisten Menschen dann nicht mehr mitfahren würden. Es sind ja auch eher die älteren, nicht so netzaffinen Zuschauer, die zudem gewohnheitsmäßig abends um halb acht zuhause sein müssen, eine ohnehin fragile Gemeinschaft.
Aber reden Sie mal mit den Alten! Die haben vermutlich noch Harald Karas und Wolfgang Hanel drauf, prägende Figuren und Glaubhaftigkeits-Giganten der ersten Jahrzehnte. Und sie kennen viele andere noch, Rainer Höynck, der kürzlich hochbetagt starb, Evelyn Lazar, Hans-Werner „Machts-gut-Nachbarn“ Kock oder den flotten Gert Ellinghaus, der 1984 das ganze Ding auf US-News-Show umpolen sollte, aber ruhmlos scheiterte und auf Baulöwe umschulte. Alexander von Bentheim! Oder Lutz Lehmann, damals verbissen an der Ost-Front tätig, den wir heute wohl einen Investigativ-Reporter nennen würden.
Schlagerhaftes Frontstadttheater in Pappkulissen
Alte Zuschauer können sich auch an den Großkabarettisten Wolfgang Gruner erinnern, der als „Otto Schruppke“ unzählige Sonnabend-Sendungen beschloss und den Zuschauern, die mit Salzstangen und Dujardin auf Wohlstand machten, die authentische Berliner Schnauze vorführte, ach was, definierte. Und das Mäcki-Trio, oh Gott, schlagerhaftes Frontstadttheater in Pappkulissen, aber nicht ohne Prophetie: „Und wenn mal Untern Linden/die Fahnen, die dort stehn/vom Wind verweht verschwinden/wird’s allen besser gehn.“
Der Kern der Sendung in den ersten Jahrzehnten war indessen unerbittlich nachrichtenorientiert. Schwarz-weiße Bilder, dazu ein Text der Redaktion aus dem Off, kaum O-Töne, Menschen nur als offizielle Gesprächspartner oder als Staffage großer oder kleiner Ereignisse, winkend, weinend, staunend. Das war damals so, die Zeitungen machten es nicht anders. Wer – als Mann – vor die Kamera trat, trug selbstverständlich Schlips und Kragen, Frauen kamen ohnehin nicht vor, bis Evelyn Lazar diese gläserne Studiodecke 1971 durchstieß.
Deshalb ist es überraschend, dass all diese Protagonisten der Sendung so immense Popularität genossen, es zum Teil in der Erinnerung immer noch tun. Aber es waren eben auch die Mauerzeiten, die Freiheit musste tagtäglich verteidigt, zumindest aber beschworen werden. Dritte Programme und private gab es noch nicht, die „Abendschau“ lief im ersten beziehungsweise anfangs einzigen West-Programm direkt vor der „Tagesschau“, da kamen Marktanteile an die 80 Prozent zusammen. Seitdem wurde die Sendung von unglaublich vielen Moderatoren präsentiert, mal allein, mal zu zweit, sogar Johannes B. Kerner war mal dabei – aber an ihn erinnert man sich weniger als an die Dauerläufer wie Lazar, Kock oder später Friedrich Moll, die sich allesamt als gute Nachbarn im Wohnzimmer etablierten.
Die „Abendschau“ ist ein unsinkbares Stück Berlin
Überhaupt muss man der Sendung und ihren Chefs und -innen überhaupt bis heute ein gutes Händchen fürs Moderationspersonal bescheinigen. Hinter all dem arbeitet eine verlässliche Redaktion mit Reportern, die vor allem im Politikgeschäft oft mehr professionelle Äquidistanz zeigen, als es die Kollegen von „Tagesschau“ und „heute“ tun, und die die Konfliktlinien der Berliner Politik im Rahmen der Sendezeit genau nachzeichnen. Wenn ich Zeit habe, sehe ich die Sendung als Vergewisserung, nichts Wichtiges verpasst zu haben, das ist schon ein Vertrauensbeweis und geht ja längst weltweit.
Manchmal wirkt der Stolz aufs „Exklusive“ ein wenig albern, wenn beispielsweise immer wieder stolz die eigenen Bilder vom Mauerfall herausgeholt werden – ja, wer hätte sie denn sonst filmen sollen? Vieles nervt mich, beispielsweise die albernen Straßenumfragen, gefühlt drei pro Sendung, die eher eine Karikatur von Bürgernähe zeigen als die Bürgernähe selbst. Und in der Kulturberichterstattung dominiert die Fanperspektive am roten Teppich, wie überhaupt Premieren aller Sparten, wenn überhaupt, weitgehend kritiklos als gesellschaftliche und nicht kulturelle Ereignisse abgehandelt werden – das war früher mal substanzieller.
Vielen Beiträgen vor allem am Wochenende merkt man auch den Rundfunkrat im Nacken an, wenn zuverlässig jedes noch so winzige Gemeinde-, Solidaritäts- oder Nachbarschaftsfest samt fröhlich tobender Kinderschar seinen Weg in die Sendung findet. Es schmeichelt gewiss dem Veranstalter, wenn ein „Abendschau“-Team vorbeischaut, möglicherweise sogar angeführt vom leibhaftigen Ulli Zelle; aber kann das der Zweck einer solchen Sendung sein?
Wie auch immer: Die „Abendschau“ ist ein unsinkbares Stück Berlin, das die leidige Ost-West-Grenze überwunden hat, und das durchaus besser als alle Zeitungen. Sie startete, als ich in die Schule kam, und sie wird mich ganz sicher überleben. Auf soviel Kontinuität können die Macher durchaus stolz sein.
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