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Lieber zu zweit einsam. Im Dortmunder „Tatort“ spielt Anna Schudt die Kommissarin Martina Böhnisch: die bemerkenswerte Darstellung einer bemerkenswerten Rolle. Nach Feierabend bestellt sich die Polizistin Callboys ins Hotel.
© WDR/Markus Tedeskino

Porträt der Schauspielerin Anna Schudt: Auf Expedition

München war großartig, Berlin fürchterlich, der „Tatort“ ist ein Treffer. Wie die Schauspielerin Anna Schudt zu sich selber fand.

Vor kurzem hatte Anna Schudt fünf Monate frei. Kein Dreh, kein Film, keine Maske. Eine Zeit, die nach Luxus klingt. Nach Freiheit, Urlaub und kühlem Rosé am Abend. Anna Schudt blieb in Düsseldorf. Sie wusch die Wäsche, packte die Brotdosen für ihre Söhne, las ihnen Geschichten vor. Sie sagt, sie sei keine „Reisemaus“. Auch ihr Vater, sehr gern unterwegs, habe einmal irgendwann seufzend vor ihr gestanden und festgestellt: „Du machst halt deine Reisen nach innen.“ Fast dreißig Jahre ist sie schon Schauspielerin. Und jede Rolle ist für sie eine Expedition zu sich selbst.

Sie ist Emmy- und Bayerische Filmpreisträgerin. Seit sieben Jahren gehört sie zum „Tatort“-Team aus Dortmund. An der Seite von Peter Faber (Jörg Hartmann) spielt sie die Kriminalkommissarin Martina Bönisch. Eine toughe Frau mit hochgestecktem Haar und im schwarzen Jackett, eine Garderobe wie geschaffen für alle Chefinnen. Aber hinter der Maske brodelt es. Ihr Film-Ex ist arbeitslos, die Filmkinder sind ratlos und sie selbst oft sehr einsam. Der Umstand, dass sie sich nach Feierabend mit Callboys vergnügt, hat sie im Fernsehen berühmt gemacht. „Umstritten“, „verwerflich“, „einzigartig“ – so lauteten die Kommentare in der Presse. Anna Schudt bezeichnet ihre „Tatort“-Rolle als einen „Treffer“. „Frau Bönisch hat mir bisher nur Gutes beschert“, sagt sie. „Ich bin dieser Figur, die ich über sieben Jahre weiter entwickeln konnte, sehr dankbar.“

Sie sitzt in einem Berliner Restaurant, bunt wie der Frühling: Blonde Haare, roter Perlenring, grüne Tasche, goldgerahmte Brille. Sie ist für die Gala zum Deutschen Filmpreis in die Hauptstadt gekommen, im Gepäck hat sie einen schwarzen Anzug, den sie sich für den Abend geliehen hat. „Den finde ich cool und stylish und in anderthalb Minuten bin ich da reingeschlüpft“, sagt sie.

Drei Söhne, wenig Zeit, viel Verantwortung – so wie sie nicht gern reist, mag sie es auch am liebsten bequem. Bei der Emmy-Preis-Verleihung im vergangenen November trug sie ein ärmelloses, langes Seidenkleid. In New York wurde sie für ihre Rolle als Gaby Köster in der RTL-Produktion „Ein Schnupfen hätte auch gereicht“ ausgezeichnet. Für ihre „amazing performance“, ihre schauspielerische Leistung. Bei der Verleihung des wichtigsten Fernsehpreises der USA stand sie als deutscher Export auf einer internationalen Bühne. Stolz und überglücklich. Es war ihr erster Preis für eine Filmrolle.

Anna Schudt, Tochter eines Biochemikers und einer Körpertherapeutin, wurde 1974 in Konstanz geboren. Sie wuchs auf dem Land auf, direkt am Wasser. Manchmal schaute sie die amerikanische Serie „Bonanza“, aber ansonsten hatte sie mit dem Fernsehen nichts am Hut. Der wilde Westen fand vor ihrer Haustür statt: Schwimmen im See, Toben auf der Wiese, Schnitzen von Stöcken. Da, wo das Land weit und fruchtbar ist, wachsen auch die großen Ideen. Schon nach der 10. Klasse wollte sie die Schule schmeißen und Schauspielerin werden. Einen Auslöser für ihren Berufswunsch gab es nicht, sagt sie, aber bei Theaterbesuchen habe sie immer gedacht: „Da gehöre ich hin.“ Die Bühne: Mit 16 bewarb sie sich an den Schauspielschulen in Essen, München und Frankfurt. Vorbereiten, Verreisen, Vorsprechen. „Als Teenager fand ich das normal“, erzählt sie. „Heute bin ich enorm erstaunt über diese Klarheit und Sicherheit, die ich damals hatte.“ An der Otto-Falckenberg-Schule in München nahm man sie trotz des jungen Alters auf. Sie fiel unter die Ausnahmeregelung „besondere künstlerische Begabung“.

Anna Schudt wirkt, als sei sie ein ausgeglichener Mensch. Ruhig, sicher und gelassen. Vielleicht liegt das an ihrem Grundsatz, dem sie im Leben folgt: „Wichtige Dinge mache ich gerne alleine.“ Rollen lernen, Entscheidungen fällen, Kinder kriegen – in Situationen, in denen sie sich konzentrieren muss, schließt sie einfach die Tür. Das gebe ihr mehr Kraft, findet sie, weil sie durch nichts und niemanden abgelenkt wird. Die Vorbereitung auf neue Figuren ist für sie ein inneres Abenteuer. Sie sagt, sie sei jedes Mal überrascht, was sie dabei in sich entdeckt. Als wäre sie ein großer Schubladenschrank gefüllt mit vielen verschiedenen Charakteren.

Die Zeit an der Otto-Falckenberg-Schule nennt sie die „beste ihres Lebens“. Man stelle sich ein 17-jähriges Mädchen vor, grüne Augen, blonde Haare und neugierig auf die Welt. Vom Land in die Stadt. Aus der Schule in den Schauspielunterricht. Vom Elternhaus ins eigene Heim. Alles auf Anfang. Ein Paradies aus neuen Erfahrungen, Möglichkeiten und Prägungen. Sie hat alles aufgesogen, Kammerspiele und Residenztheater, Rolf Boysen und Gisela Stein, Götter der Bühne. Anna Schudt ist 19, als sie selbst ihre erste große Rolle in den Münchner Kammerspielen spielt. Dorthin wird sie direkt nach ihrem Studium engagiert. Noch heute schwärmt sie von ihren Anfangsjahren, den Stücken, dem Ensemble, dem Intendanten. Sie habe sich wie in einer Familie, wie Zuhause, gefühlt, sagt sie. Von ihr aus hätte es immer so weitergehen können.

Doch dann kam Berlin. Und als hätte sie auf die Frage nach ihrem Aufenthalt in der deutschen Hauptstadt schon lange gewartet, platzt es sofort aus ihr heraus: „Das war fürchterlich für mich.“ Wenn die Schauspielerei eine Hüpfburg ist, dann war München für sie der Sprung nach oben, und Berlin der freie Fall. Der künstlerische Leiter Thomas Ostermeier hatte sie Ende der 90er an die Schaubühne geholt. Als alleinerziehende Mutter arbeitete sie nun in einem 24-Stunden-Theater, die männlichen Schauspieler um sie herum erschreckten sie mit ihrer Energie und ihrem Gebrüll. Plötzlich fühlte sie sich auf der Bühne verloren, schwach, unfähig.

Obwohl das 20 Jahre her ist, merkt man ihr die Emotionen an, die sie mit dieser Zeit verbindet. Enttäuschung, Schmerz und Wut. Ihre Stimme scheint lauter und gebrochener, wenn sie darüber spricht. Einmal sagte Thomas Ostermeier zu ihr: „Ich habe dich als starke Frau engagiert und du bist kaum mehr sichtbar.“ Unsichtbarkeit ist der Tod einer Schauspielerin. Zwei Spielzeiten hielt sie durch, dann ging sie zurück nach München. Sie brauchte vier Jahre, um wieder selbstsicher zu sein. Sie dachte viel über ihren Beruf und über Brüche nach. Heute resümiert sie: „Es ist wichtig, dass das Leben nicht immer nur glatt läuft. Dass es Tiefpunkte gibt. Nur so existiert auch ein Gleichgewicht zwischen Zweifel und Jubel.“

In diesem Jahr hat Anna Schudt gleich zwei deutsche Fernsehpreise gewonnen. Für ihre Darstellung der Erika Gerlach in dem ZDF-Film „Aufbruch in die Freiheit“ erhielt sie die Goldene Kamera und den Bayerischen Filmpreis als beste Schauspielerin. In dem Drama spielt sie eine Metzgersfrau, die in den 70er Jahren auf der Suche nach Selbstbestimmung ist. Der Film entwirft ein Selbstporträt deutscher Realitäten, er erzählt die Geschichte der Elterngeneration, vom Kampf nach Unabhängigkeit. „Als ich das Drehbuch las, habe ich sofort gewusst, wer Erika Gerlach ist“, meint Anna Schudt. „Als Kind der 70er Jahre kannte ich diese Art von Frau, die Autoritäten und die Umgebung. Für mich war diese Rolle ein Hauptgewinn.“

Anna Schudt trägt dieses Drama. Ein Blick in ihr Gesicht reicht, um zu erahnen, was in ihr vorgeht. Angst, Unsicherheit, Leere, Trauer und auch Hoffnung. Die Jury des Bayerischen Filmpreises urteilte: „Fein nuanciert, dazu mit großer, uneitler Spielfreude verleiht Anna Schudt dieser Achterbahn der Gefühle bewundernswerte Authentizität.“ Dieser Preis und auch die anderen, sagt sie, haben ihr das Empfinden gegeben, als Schauspielerin begehrt zu sein.

Manchmal träumt Anna Schudt davon, dass Thomas Ostermeier sie aus Berlin anruft und sagt: „Komm her und mache hier ein Stück.“ In diesen Momenten denkt sie, dass sie es vielleicht wirklich tun sollte. Zurückzukehren an die Schaubühne. Es noch einmal zu versuchen. Damit der Traum sich einfach auflöst.

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