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Das Leben ist schön. Angela Merkel bei einer Bundestagsdebatte im Jahr 2005, dem Jahr, in dem sie Bundeskanzlerin wurde.
© MDR/Arte

„Angela Merkel: die Unerwartete“: "Arte" zeigt, wie aus "Mutti" die "Flüchtlingskanzlerin" wurde

Kaum jemand erinnert sich noch an die Jugendministerin, die sich zum Gespräch mit jungen Neonazis traf. Der Fernsehsender "Arte" tut es in einem Porträt der Kanzlerin.

Der erste Reflex ist Staunen: Meine Güte, war die mal ein kleines Mädchen! „Kohls Mädchen“, genauer gesagt, damals vor einem Vierteljahrhundert. Aber wenn schon der Rezensent kurz schlucken muss, dem diese Angela Merkel kurz nach dem Mauerfall begegnet ist – wie geht es dann erst der Generation, die sie ihr Lebtag lang nur als das regierende Gesicht im Kanzleramt erlebt hat? „Die Unerwartete“ haben Matthias Schmidt und Torsten Körner ihr Merkel-Porträt genannt, das Arte am heutigen Dienstag ausstrahlt. Der Titel, ein Zitat der langjährigen Merkel-Vertrauten Annette Schavan, trifft den Film ziemlich gut – gleich in mehrfacher Weise.

Unerwartet scheint Angela Merkel zum Beispiel für die Autoren selbst gewesen zu sein. Man wird das Gefühl nicht los, dass das Duo gerade üppig Material für den gediegenen Rückblick aus Anlass der vierten Kanzlerkandidatur gesammelt hatte, als die Weltgeschichte dazwischenkam. Wenn das so war, hätten sie das Klügste aus dem Unfall gemacht: Aus der Fülle von Archivbildern und Interviews mit Beobachtern und Begleitern, aus der Lebensgeschichte der Angela Merkel den Versuch zu unternehmen, die unerwartete „Flüchtlingskanzlerin“ des November 2015 zu erklären.

Jugendministerin im Gespräch mit Neonazis

Das führt zu einem erfreulich differenzierten, weil nicht von vornherein zur These verengten Bild mit – Entschuldigung, das Wortspiel trifft es halt – unerwarteten Momenten. Die clevere Machtpolitikerin kennt ja jeder halbwegs politisch Interessierte; geläufig sind Machiavelli-Momente wie der Scheidungsbrief in der „FAZ“ an den Spenden-Sünder Helmut Kohl oder das Frühstück von Wolfratshausen, bei dem die CDU-Chefin dem CSU-Chef die Kanzlerkandidatur überließ, letztlich zu ihrem Nutzen und Edmund Stoibers Schaden.

Aber erinnert sich jemand an die Jugendministerin, die sich zum – vergeblichen – Gespräch mit jungen Neonazis traf, Pegida lässt grüßen? Und wer weiß noch so genau, dass Ernst Albrecht als Ministerpräsident Ende der 70er Jahre zehntausende vietnamesische Flüchtlinge nach Niedersachsen holte, zum tiefsten Missfallen der CDU?

An der Stelle bricht die Rückblende ab, es folgt übergangslos Merkels Szene mit dem weinenden Palästinensermädchen Reem. Dieses Muster aus Vor und Zurück ist ein Grundgerüst des Films, eine Art Beweisführung ohne Worte: Seht her, in die Gegenwart ragt eine Vorgeschichte. Die wird in vielen Facetten beleuchtet durch Zeitzeugen von Norbert Blüm über Roland Koch und Franz Müntefering bis hin zur aktuellen Merkel selbst im Interview mit den Autoren. Die halten sich ansonsten im Hintergrund; nur ab und an soll ein eingeblendetes Zitat des Renaissance-Machttheoretikers Niccolo Machiavelli oder ein Satz aus dem Off („Jede Krise mehrt ihre Macht“) den Zuschauer auf eine bestimmte Spur bringen.

Da wäre noch viel mehr zu erzählen gewesen

Ist er, dieser Zuschauer, hinterher klüger? Keine Frage – ja.

Versteht er aber auch, wieso aus „Mutti“ Ende 2015 die „Flüchtlingskanzlerin“ wurde und heute die Kanzlerin, die sich ihr „Wir schaffen das“ verkneifen muss, obwohl genau in dem Satz doch ihr Lebensmotto steckt?

Sagen wir so: Die 90 Minuten liefern jedenfalls Fingerzeige darauf, dass das Unerwartete so verblüffend gar nicht war. Merkel war vorher keine eiskalte Machtmechanikerin und hinterher keine Gefühlsdusel-Tante. Aber schon dass Horst Seehofer („Es war ein Fehler!!“) nur ein einziges Mal und in einer Archivaufnahme auftaucht, zeigt, dass da noch viel mehr zu erzählen gewesen wäre. Vielleicht beim nächsten Mal. Wenn bloß nicht wieder irgendeine Weltgeschichte dazwischenkommt!

„Angela Merkel: die Unerwartete“, Arte, Dienstag, 20 Uhr 15; Wiederholung, ARD, 12.12., 22 Uhr 45

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