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JUGEND, SEX, ROCK'N ROLL: Alles nur Latte Macchiato

Grotesk heutig: Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ als Theaterfilm

1891 erschien in Deutschland ein Stück, an dessen Aufführung nicht zu denken war. Kaum war es da, wurde es von der Zensur verfolgt. Das Genre schien denkbar neu: „Eine Kindertragödie“. Junge Menschen entdecken etwas, auf dessen Besitz sie niemand vorbereitet hatte – ihren Unterleib. Der Unterleib auf der Bühne? Erst 1906 wurde das Stück uraufgeführt. Der Autor Frank Wedekind hatte über zwanzig Jahre Zeit gehabt, sein Werk zu entschärfen.

Nach 119 Jahren scheint sich das Problem sehr verändert zu haben. Menschen, die das Theater fürs Fernsehen retten möchten, sind oft sehr misstrauisch. Vor allem trauen sie den Stücken nicht. Hat man je die untere Körperhälfte so schön sprechen gehört wie bei Frank Wedekind? Aber wer versteht das heute noch, weiß um das Schicksalshafte der erwachenden Geschlechtlichkeit? Muss man diese Sprache, dieses Wissen nicht für die Zeitgeister übersetzen?

Heute Abend dolmetscht der Bühnenregisseur und Drehbuchautor Nuran David Calis Wedekind. „Mit diesem Film will ich beweisen, wie sehr diese Geschichte noch in unserer heutigen Zeit verankert ist“, erklärt er. Ja, so kann man das formulieren, der Unterleib ist noch in unserer Zeit verankert. Und Calis heftet sich mit aller Kraft an unsere Zeit.

Weg von der Bühne ins wirkliche Leben. Rumhängen auf graffitibesprühten Spielplätzen und Kellerrap, wogegen absolut nichts einzuwenden ist, würden die coolen Kids nicht zwischendurch eigentümliche Sätze aufsagen müssen. A beim Austreten: „Wie einem der Wind um die Wangen saust!“ – B schaut A alles verstehend an: „Wie einem das Herz hämmert!“.

Oder Mutter und Tochter am Frühstückstisch. Tochter: „Vielleicht werd ich nicht mehr sein!“ – Mutter: „Was du immer denkst!“ Und so geht das weiter. Das ist offener Verrat. Am Theater, an Wedekind. Denn hier ist zu besichtigen, was in keinem Theater des Landes stattfindet: lächerlichstes Laienspiel. Und gerade das Aufgesetzte, das „Unechte“ ist es, was Nichttheatergänger im Theater vermuten. Theaterfilme werden für diese Zielgruppe gemacht, und sie findet sich groteskerweise betätigt.

Das liegt nicht an den jungen Darstellern wie Wilson Gonzalez Ochsenknecht, Leon A. J. Pfannenmüller oder Constanze Wächter. Es liegt an dem immer wieder abrupten Wechsel der Tonlagen, meist in den unpassendsten Augenblicken. Der absurd hohe Ton gerade im Alltäglichen geht dabei durchaus nicht auf die Rechnung von Frank Wedekind. Mutter zur Tochter: „Du hast Latte Macchiato gekocht! Gott, wie freundlich du bist!“ So viel Dilettantismus grenzt ans Strafbare.

Theatersprache ist meist, zumindest in den älteren Stücken, Innenraumsprache. Daher ihre Schönheit. Sie braucht gar keine Übersetzung. Nicht Personen sprechen sich aus, sondern Seelen. Nuran David Calis betrügt genau um den Reiz des Theaters, den er preisen möchte.

„Frühlings Erwachen“, Arte, um 22 Uhr 25

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