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Journalismus, der Grenzen überschreitet. Fotografen und Fernsehteams umringen die Gladbeck-Entführer in der Kölner Innenstadt.
© dpa

Das Gladbecker Geiseldrama als TV-Film: 54 Stunden mörderische Reality Soap

Die Verführungskraft des Animalischen: „Gladbeck“, ein ARD-Zweiteiler über das Versagen von Polizei und Journalismus im August 1988. Eine Frage stellt sich aber auch nach dieser Verfilmung dringend.

Nichts ist so furchtbar wie die Wirklichkeit. In „Gladbeck“, dem Zweiteiler über ein Geiseldrama vor bald 30 Jahren, den das Erste am Mittwoch und Donnerstag zeigt, wird das Furchtbare kurz vor der letzten Etappe wirklich. In der Kölner Fußgängerzone, als sich die Bankräuber Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski nach ihrer Irrfahrt durch halb Deutschland in ihrem Ruhm als Medienstars sonnen. Ihr Fluchtauto ist umzingelt von Reportern, Fotografen, Kameraleuten und ganz normalen Gaffern, wer halt gerade Zeit hat an diesem 18. August 1988.

Rösner sitzt vorn am Steuer, Degowski hinten zwischen zwei Geiseln, den Revolver im Anschlag. Man hört das Klacken der Fotoapparate, draußen balgt sich die Meute um die besten Plätze, und plötzlich ruft einer: „Halt doch noch mal dem Mädchen die Pistole an den Kopf!“ Degowski nickt und drückt den Lauf in den Hals seiner Sitznachbarin.

Klack!-klack!-klack!, antworten die Fotografen.

Ein paar Stunden später ist das Mädchen tot, erschossen von Rösner im Chaos um das gewaltsame Ende der Geiselnahme auf der Autobahn bei Bad Honnef. Zsá Zsá Inci Bürkle spielt diese Silke Bischoff, 18 Jahre jung, fröhlich und hübsch anzuschauen, auch deswegen hat Degowski sie aus dem zuvor gekaperten Bus zu sich ins Fluchtauto geholt. Und weil Silke Bischoff ihn kurz angelächelt hat, Selbstschutz gegen die Panik, die Todesangst. Zsá Zsá Inci Bürkle ist im August 1995 geboren, ziemlich genau sieben Jahre nach dem Geiseldrama von Gladbeck. Als sie zur Vorbereitung die Aufnahmen von damals studiert hat, „da dachte ich, das wäre ein Spielfilm“.

Nein, es ist die Wirklichkeit in ihrer banalen Furchtbarkeit. Der Regisseur Kilian Riedhof und sein Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt haben einige Stellen überzeichnet, aber im Großen und Ganzen hat sich alles genau so abgespielt. Auch die Szene mit dem Fotografen, der noch mal das Motiv mit der Knarre am Kopf der Geisel gestellt haben will.

Jedes Detail ist eifrig dokumentiert worden von den Reportern, Fotografen und Kameraleuten. Gladbeck war eine sich über 54 Stunden hinziehende mörderische Reality Soap. Zu einer Zeit, als es noch gar keine Smartphones und Digitalkameras gab, kein Fenster, das gleich bei Facebook aufpoppt: „Hans-Jürgen Rösner ist jetzt live!“

Zu groß waren die Befürchtungen

Der Mörder Rösner hat es den Filmleuten nicht leicht gemacht. Zweimal hat er gegen die Produzentin Regina Ziegler geklagt und versucht, eine Ausstrahlung zu verhindern. Zweimal ist er gescheitert mit seinem Argument, die Verfilmung des Geiseldramas gefährde seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Vor einem Jahr hat sein Anwalt die juristische Auseinandersetzung für beendet erklärt, aber die Macher trauten dem Frieden nicht. Vorab-Vorführungen gab es nur gegen Unterzeichnung einer Verschwiegenheitserklärung. Zu groß waren die Befürchtungen, die Ausstrahlung könnte im letzten Augenblick gestoppt werden.

Ob Rösner am Mittwochabend in der Justizvollzugsanstalt Aachen den Fernseher einschaltet? Er bekäme ein Alter Ego von verblüffender Ähnlichkeit zu sehen. Sascha Alexander Geršak kommt dem Kopf des Gangsterduos nicht nur optisch mit seinem rauschenden Bart und breitbeinigen Gang sehr nahe. Er spielt Rösner auf beängstigend minimalistische Weise so authentisch wie Alexander Scheer den hypernervösen Degowski (der vor ein paar Wochen mit neuer Identität aus der Haft entlassen wurde). Der Berliner Scheer hat dieses Stück Zeitgeschichte im Sommer 1988 als Elfjähriger zu Hause in Friedrichshain vor dem Fernseher verfolgt. Woran er sich erinnert? „Dass ich mir dachte: Mann, die haben Probleme im Westen!“

Diese Probleme betrafen nicht nur Staats- und Polizeiversagen. Gladbeck war ein Wendepunkt, der Augenblick, in dem das Renommee eines Berufsstandes schweren Schaden nahm. Seit dem August 1988 sind Journalisten in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr die edlen Aufklärer von Watergate, sondern die sensationsgeilen Voyeure aus der Kölner Fußgängerzone. Es waren ja nicht nur die üblichen Verdächtigen vom Boulevard, die willfährig ihre Kameras und Mikrofone den Gangstern reichten. Auch die „Tagesschau“ bekam ihr Live-Interview, der junge Reporter Frank Plasberg hatte Glück, dass sein Gespräch mit Rösner vom Südwestfunk nicht gesendet wurde.

Es gibt in dieser surrealen Groteske keine Unschuldigen. Nicht bei der Polizei, die die Verantwortung von Bundesland zu Bundesland und Einsatzleiter zu Einsatzleiter weiterschiebt. Aber auch nicht bei den Voyeuren mit Presseausweis, die den Gangstern eine Tankfüllung spendieren, sie vor Zivilpolizisten warnen und sich ihnen als Fremdenführer andienen, fasziniert von der Vorstellung, bei einer richtigen Kriminalgeschichte mitzuspielen.

"Das ist mein Sohn"

Kilian Riedhof nennt das „die Verführungskraft des Animalischen“. Ja, die Psyche der Täter hat ihn interessiert, aber 180 Fernsehminuten wären sie ihm nicht wert gewesen. Da ist noch eine andere Geschichte in „Gladbeck“. Eine, die im Schatten der Verfolgungsjagden und Blitzlichtgewitter oft zu kurz kommt. Es ist die Geschichte der Opfer. Riedhof erzählt sie am Beispielder Familie de Giorgi, deren Sohn Emanuele von Degowski bei einem Zwischenstopp erschossen wird.

Emanuele ist 15 und sitzt mit seiner kleinen Schwester Tatiana in dem Linienbus, den die Gangster in Bremen kapern. Es zerreißt einem das Herz, wie der Vater Aldo auf dem Polizeirevier eine Vermisstenmeldung aufgeben will und im Fernsehen seine Tochter in dem entführten Bus sieht. „Kennt jemand eine der Personen hier?“, fragt ein Polizist, und der Vater hebt verzweifelt die Hand. „Das ist meine Tochter.“ Sekunden später blendet die Totale auf Emanuele. Wieder hebt der Vater die Hand. „Das ist mein Sohn.“

Man kennt die Aufnahmen vom sterbenden Emanuele, wie er aus dem Bus geschleift wird und mit dem Kopf auf den Asphalt schlägt. Aber wer weiß, dass Aldo das Krankenhaus im Glauben betritt, den verletzen Emanuele zu besuchen? Wie er in das Krankenzimmer geschickt wird und vor seinem aufgebahrten Sohn steht. Wie er seiner Frau sagen muss: „Emanuele ist bei den Engeln.“ Wie Tatiana ihren Vater anfleht: „Mach es weg, Papa, mach es weg!“ Viel zu spät entdeckt er den riesigen Blutfleck auf dem Rock seiner Tochter.

Warum stehen bei dem Gladbecker Geiseldrama immer nur Gangster, Polizisten, Journalisten im Blickpunkt? Nie die Familie von Emanuele de Giorgi, die Mutter von Silke Bischoff, die zweite Geisel im Fluchtwagen, bis heute schwer traumatisiert? Nichts ist so furchtbar wie die Wirklichkeit. Sie ist es wert, abgebildet zu werden – und wenn auch erst nach 30 Jahren.

„Gladbeck“, ARD, Mittwoch und Donnerstag, 20 Uhr 15; „Maischberger“, Mittwoch, 22 Uhr 45; „Das Geiseldrama von Gladbeck – danach war alles anders“, Donnerstag, 21.45 Uhr

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