Farmers Market in Seattle: Markthalle für alle
In Seattle im Nordwesten Amerikas bringt ein Bauernmarkt Ökolandwirte und Städter zusammen, Arme erhalten alles besonders billig. Ein Vorbild für Berlin?
Kevin Haggerty bückt sich. Dann greift er sich eine gute Hand Farmboden, hält sie vor sein Gesicht, schließt die Augen und atmet einmal tief ein. „Das ist unsere Erde. Und unsere Erde ist ,awesome’, genial.“ Er blickt in die Runde, als hätte er das gerade erst festgestellt. Und als sei das, was er da eben aus dem Boden gegraben hat, wertvoller als Gold.
Wir sind zu Gast im „Oxbow Convention Center“, einem 30 Hektar umfassenden Biobauernhof 40 Kilometer außerhalb von Seattle im Pazifischen Nordwesten der USA. Kevin Haggerty ist quasi der Oberbauer. Und wie er da so steht in seinen Chelsea-Boots, mit dem Lockenkopf und dem Lächeln, das sich auch auf einer Bühne gut machen würde, und wie er den Boden preist, da wird auf einmal klar, wie amerikanisch das hier alles ist, und wie gut. Haggerty, der unter anderem in München studiert hat und gerade über die Dreifelderwirtschaft referiert, erzählt eigentlich etwas ganz anderes. Eigentlich sagt er: Glaube an das, was du machst. Trage es mit stolz geschwellter Brust nach draußen. Sei dabei, verdammt noch mal, beharrlich. Und, übrigens: Wenn der Fluss, der die Farm in so einer Art Zangengriff hält, mal wieder über die Ufer tritt, ist das auch okay. Das ist Natur.
Das Gemüse von der Non-Profit-Farm erfreut sich großer Nachfrage
Das Oxbow Conservation Center ist eine Non-Profit-Farm. Schulklassen kommen vorbei, um zum ersten Mal in ihrem Leben zu erfahren, dass es so etwas wie Spinat gibt – die meisten schauen lieber die Traktoren an –, aber auch junge Großstädter, die Teil des CSA-Programms des Hofes sind. Das ist eine Art Gemüse-Flatrate, für die man am Anfang der Saison eine feste Summe bezahlt, vergleichbar mit unseren Biokisten. Der Unterschied: Man darf sich selbst aussuchen, was man haben möchte. Etwa 100 Kunden haben sich dafür registriert, die Nachfrage ist deutlich höher. Ein weiterer Teil der Ernte ist fest für die örtlichen Tafeln eingeteilt, anderes wird auf einem Markstand in Seattle verkauft. Und manches wird mit größtem Vergnügen vor Ort verspeist: An diesem Frühlingswochenende steigt ein großes Essen, ein „Farmtable“, der als Begleitung für die Präsentation einiger Weine aus dem Bundesstaat dient. Das Wurzelgemüse und die Micro-Greens, die Melissa Miranda, eigentlich Köchin des „Musang“, eines brandneuen Restaurants in Seattle, zu philippinischen Fusion-Gerichten verarbeitet, stammen ebenfalls vom Bauernhof.
Bio-Landwirtschaft und Direktvermarktung sind große Märkte in den USA
Direktvermarktung und ökologische Landwirtschaft sind in den USA große Märkte – vor allem an der traditionell liberalen Westküste. Die Wachstumsraten waren in den letzten Jahren zweistellig. Washington ist, was den Absatz von Bio-Lebensmitteln angeht, amerikanischer Vize-Meister: 2018 wurden 667 Millionen Dollar dafür ausgegeben, das sind etwa sechs Prozent des gesamten Lebensmittelumsatzes. Fast 900 Betriebe im Staat setzen auf Bio; die meisten davon liegen im Osten, jenseits der Rocky Mountains, wo die Winter kalt und lang sein können, die Sommer aber umso trockener. Nicht nur Wein wächst hier, sondern auch Äpfel, Birnen, Pfirsiche, Kirschen, Salate, Blattgemüse und Paprika. Was auffällt: Im Unterschied zu Deutschland, wo Anbau und Produktion meist getrennt sind, verarbeiten hier viele ihre Produkte gleich.
Ein besuch auf dem Farmers Market im Hipster-Bezirk Capitol Hill ist, was das Angebot an Frischwaren angeht, im Frühjahr zwar noch ergebnisarm, aber man kann Trockenware kaufen – zum Beispiel die wunderbaren Paprika von Tonnemaker aus Royal City. Ein gutes Dutzend liegt da getrocknet auf Halde, von kleinen, scharfen Chili-Bömbchen über solche, die so süß sind wie ein Apfel, bis zur klassischen Gemüsepaprika. Ein anderer Stand bietet Pilz-Sets zum Selberzüchten an. Die „Spoonful Farm“ verkauft ihr „Shimmy Shimmy Sauerkraut“ mit dem Slogan „Loyal To Soil“. Und bei den Seafood-Köchen von „Mystery Bay“ ist die Herkunft der Ware trotz des Namens recht klar: alles „locally sourced“. Am schönsten ist der Besuch bei „Rathbun and Moore“: Die kleine, noch recht junge Farm hat sich auf Geflügel spezialisiert. Das laminierte Portrait eines Huhns hängt am Stand, ein wenig so wie in sozialistischen Ländern die Staatsführer in öffentlichen Gebäuden von der Wand blicken. „Das ist Mark Wahlberg. Es wurde neulich von einem Lastwagen überfahren“, sagt der Standbetreiber. Einen Stand weiter gibt es Tamales, ein mexikanisches Maisteig-Gericht. Während der Koch in einer großen Pfanne das Gemüse wendet, das in Maisblatt als Hülle kommt, lächelt er und sagt: „Vergiss nicht, uns bei Instagram zu vertaggen.“
Der Farmers Market hat mittlerweile sechs Filialen in Seattle
Durchaus beeindruckende elf Millionen Dollar hat der 1993 gegründete Bauernmarkt im vergangenen Jahr umgesetzt. Neben dem ursprünglichen Standort in Capitol Hill hat er mittlerweile sechs weitere Filialen im ganzen Stadtgebiet. Er ist eine Non-Profit-Organisation mit dem dezidierten Ziel, die örtliche Landwirtschaft zu fördern und mit der urbanen Community zu verbinden. Die Stadt stellt ihm den Grund und Boden zur Verfügung, als Ausgleich investiert der Markt seine Gewinne, um Bauern zu helfen, die in Schwierigkeiten geraten sind. Natürlich sind die Lebensmittel teurer als die im Supermarkt.
Aber, und das ist ein Modell, das man sich gerade für das gentrifizierungsgebeutelte Berlin mit seinen Frontlinien rund um die Kreuzberger Markthalle IX wünscht: Mit „Fresh Bucks“ gibt es ein eigenes Programm, das Bedürftigen, die auf Lebensmittelmarken angewiesen sind, stark vergünstigten Zugang zu den Produkten des Markts ermöglicht. Wie in einem Land, das für seine katastrophale Ernährung bekannt ist, eine bessere propagiert wird, ist beeindruckend. In der Stadt herrscht Konsens, dass so etwas wie „Fresh Bucks“ Sinn ergibt.
Der 1907 eröffnete „Pike Place Market“ ist ein Traditionsbetrieb, der regelmäßig in den Listen der besten Bauernmärkte der USA aufgeführt wird. Eigentlich aber ist er viel mehr als das: Er liegt direkt am Wasser und verströmt mit seinen kunstvollen Neonreklamen, mit seinen Fliesenfluren und seinen Hallen, die sich tief nach unten graben und dort langsam zu Gängen werden, in denen allerhand Antiquarisches angeboten wird, eine ganz andere Art von Charme. Er ist eine der Hauptattraktionen der Stadt, wer möchte, kann sich einer Führung von „Savor Seattle Tours“ anschließen. Dann bekommt man vor allem Essen, aber auch die Hintergründe dazu. Während man die Mac’n’Cheese von „Beecher“ kostet, wird einem von diesem ganz besonderen Käse erzählt, den es nur hier gibt. Cheddar, verfeinert mit Gruyère-Kulturen. Wir dürfen ihn in drei verschiedenen Reifegraden probieren.
Bei der russischen Bäckerei Piroshky Piroshky gibt es nicht nur fluffiges Hefegebäck, sondern auch die Geschichte, wie die Inhaber kurz vor der Eröffnung so pleite waren, dass sie kein Mehl kaufen konnten – und es ausgerechnet von der Konkurrenz gesponsert bekamen. Die beste Muschelsuppe der USA – kein Witz, die Bude gewann den entsprechenden Wettbewerb zwei Mal und muss nun pausieren, um der Konkurrenz auch mal eine Chance zu lassen – bekommen wir bei „Pike Place Chowder“. Und an „Chukar Cherries“ kommt man nicht vorbei, ohne ein Becherchen in die Hand gedrückt zu bekommen. Der Familienbetrieb wandelt seine Früchte in süße Sünden um, die im Mund geschmacklich zu explodieren scheinen, hüllt sie in Schokolade, glasiert mit ihrem Sirup Nüsse und macht aus ihnen Granola. „Grown here – made here“, steht überm Marktstand.
Nachhaltigkeit und Toleranz: Auch "Starbucks" hat seinen Platz im Markt
Auch auf dem Pike Place Market ist man bemüht, die eigenen Ursprünge zu bewahren: Nicht nur, was die Herkunft der Waren angeht, sondern auch in Sachen Wirkprinzip. So sind Filialisten in den Markthallen und den umliegenden Gebäuden – der Markt umfasst mehrere Blocks – nicht zugelassen. Eine Ausnahme machte man nur für „Starbucks“: Der Kaffee-Gigant hatte seine allererste Filiale neben dem Markt, die brannte vor einigen Jahren ab. Das Unternehmen durfte, obwohl es damals schon ein florierender Player war, dennoch ein weiteres Mal im Markt eröffnen.
Natürlich lässt sich die Situation von Seattle nicht eins zu eins auf Berlin übertragen. Wo Seattle in nicht allzu weiter Entfernung auf üppiges Farmland zurückgreifen kann, liegt vor Berlin der Märkische Sand. Und dass ein Bauer aus Brodowin seine Geschichte vielleicht nicht so formvollendet hollywoodmäßig erzählt, wie Kevin Haggerty das tut, dürfte auch klar sein. Trotzdem kann Berlin etwas lernen von den Amerikanern: Teilhabe zu ermöglichen. Keinerlei Dünkel zu haben. Schwellenängste abzubauen. Und freundlich zu sein – und zwar zu allen.
Am letzten Morgen noch einmal auf dem Pike Place Market: Ein Verkäufer nimmt Blickkontakt auf, fragt, wo man herkomme. Kurzer Smalltalk, dann gibt’s zur Verabschiedung einen Apfel in die Hand – für den Weg zum Flugzeug. „Eat your Greens, man“, sagt er und lacht. Der Apfel ist echt awesome.
Dieser Beitrag ist auf den kulinarischen Seiten "Mehr Genuss" im Tagesspiegel erschienen – jeden Sonnabend in der Zeitung. Hier geht es zum E-Paper-Abo. Weitere Genuss-Themen finden Sie online auf unserer Themenseite.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität