Ostseeurlaub: Kühlungsborn ist die Riviera des Nordens
Das Filetieren einer Lachsforelle, der Spaziergang von West nach Ost, Kunst und Jachten! Wie Großstadtstressversehrte im größten Seebad Mecklenburgs entspannen.
Vor dem Haus in der Ostseeallee 29, genau in der Mitte zwischen Kühlungsborn Ost und Kühlungsborn West, stehen zwei fremdartige, offen provokante, vollkommen exterritoriale Strandkörbe. Jeder an der Ostsee weiß, wie ein richtiger Strandkorb aussehen muss, schließlich wurde er hier erfunden: An einem richtigen Strandkorb ist alles rund, was nur rund sein kann. An diesen aber ist alles eckig, was nur eckig sein kann. Westkörbe!
Wie kommen die hierher? Karin Schatzberg ist Kühlungsbornerin aus Leidenschaft; sie kennt die Geschichte fast aller Villen der Stadt. Perlen gleich reihen sie sich hinter dem schmalen Küstenwaldstreifen auf, wo sie Kühlungsborn Ost und West verbinden. Wie in allen menschlichen Gemeinwesen, die in einen Ostteil und einen Westteil zerfallen, darf man auch hier von einem latenten Kulturkonflikt ausgehen.
Zu DDR-Zeiten wusste jeder, welches das bessere Kühlungsborn ist: West natürlich, das frühere Arendsee, auch das „Judenbad“ genannt. Vielleicht wegen der riesigen Villa, nein, dem Beinahe-Schloss, das der Berliner Rechtsanwalt Wilhelm Hausmann sich hier ab 1910 für 2,5 Millionen Goldmark bauen ließ.
Arendsee war immer eine Spur reicher und mondäner als Brunshaupten im Osten. Ein letzter Hauch vom Luxus längst vergangener Tage umgab noch in der DDR die alten, langsam verfallenden Villen, die der Arbeiter- und Bauernstaat zu FDGB-Ferienheimen gemacht hatte. Die Hausmann-Villa aber hatte er an die erste Meerwasserschwimmhalle der DDR angeschlossen, optisch eine Katastrophe, doch ungemein komfortabel.
Die Nazis legten beide Orte zusammen
Eine Meerwasserschwimmhalle hatte Kühlungsborn Ost natürlich auch nicht, doch wenigstens wie West einen eigenen Konzertgarten. Ihre Seebrücken, durch die ein Ostseebad erst wirklich zum Ostseebad wird, hatten sie alle beide verloren. Die DDR hielt es für keine gute Idee, ihren Bürgern neue Brücken Richtung Dänemark zu bauen, Geld hatte sie ebenfalls keins.
Und heute, ein Vierteljahrhundert später?
Der erste Befund fällt ins Auge: Kühlungsborn Ost besitzt eine schöne lange Seebrücke, West nicht.
Auf die Idee, sie könnten zusammengehören, wären die Arendseer und die Brunshauptener von allein wohl nie gekommen. Doch Kreisgebietsreformen sind keine Erfindung der Gegenwart, schon die Nationalsozialisten hatten eine Vorliebe für solche Maßnahmen. Das war die Geburtsstunde von Kühlungsborn. Und klang der neue Name nicht irgendwie – ungemein arisch? Und hieß ein Seebad neu zu benennen nicht, es neu zu schaffen?
Die Villa in der Motte ist zu hoch
Den Ureinwohnern war das immer egal. Sie wussten, wie ihre Orte hießen, und blieben dabei. Zwischen beiden Frontstädten verläuft jedoch nicht nur die Villenkette als diplomatischer Korridor. Da sind außerdem noch sechs Kilometer feinster heller Sandstrand und vier Kilometer Strandpromenade, das ist die längste Deutschlands, weshalb man Kühlungsborn bereits versuchsweise „Riviera des Nordens“ angetitelt hat. Die Villa in der Mitte, das fällt nicht nur wegen der beiden Strandkorbirrtümer auf, da ist noch etwas: Sie ist zu hoch, eindeutig zu hoch!
Kein Haus im Ort überrage den höchsten Baum im Stadtwald!, entschieden die Kühlungsborner gleich nach 1990. Klingt bescheiden, Wie ein Beschluss von Leuten, die sonst nichts zu entscheiden haben. Aber das täuscht. Die Kühlungsborner machten aus dem eklatanten Nachteil, in oder neben lauter halb verfallenen Villen aus der Kaiserzeit zu wohnen, einen eklatanten Vorteil. Denn immerhin, sie waren noch da. Und den Fehler, jede Harmonie zerstörende Hochhaus-Hotels daneben zu bauen wie an der Westküste, würden sie hier nicht machen.
Der Wind weht wie fast überall meist aus dem Westen. Manche halten das für ein Zeichen. Wer also von West losgeht, kann sich vom Wind die Strandpromenade entlang nach Ost wehen lassen und dann geschützt von den Bäumen an den alten Villen der Ostseeallee wieder zurückgehen, lautet Karin Schatzbergs Gebrauchsanweisung für ihren Heimatort. Und ungefähr in der Mitte könnte er bei „Edel und Scharf“ eine Currywurst essen, Champagner dazu trinken und aufs Meer gucken.
Perrier Jouët und selbst gemachte Currywurst
Currywurst und Champagner? Du spinnst total!, sprach Vater Erdmann vor 13 Jahren zu seinem Sohn. Er hatte kurz zuvor einen merkwürdigen Anruf erhalten: Ob er nicht Lust habe, am neu entstehenden Jachthafen einen Imbiss aufzumachen? – Nee, wenn, dann einen Schuhladen!, sprach der Inhaber der „Brutzelstube“ von Kröpelin, hinter Kühlungsborn landeinwärts gelegen, mehr zum Spaß, beging aber den Fehler, seinem als Versicherungsmakler um die Welt reisenden Sohn davon zu erzählen, und der sagte nur: Perrier Jouët und selbst gemachte Currywurst!
Gerd Erdmann gehört zu der Generation Ost, die die Wende 1990 mit eiskalter Hand traf. Eben noch war er Chef der Instandhaltung im Kombinat Schiffbau in Rostock gewesen, da plötzlich begegnete der Arbeitslose zu ganz unmöglichen Tageszeiten zu Hause auf dem Sofa seiner Frau, der just entlassenen Diplomingenieurin für Schiffbau. Und nun? Sollten sie etwa hier sitzen bleiben? Wir machen einen Imbiss auf!, beschlossen die Überqualifizierten.
„Jeden Morgen um fünf fuhren wir nach Hamburg zum Großmarkt einkaufen“, erinnert sich der Seniorchef von „Edel und Scharf“ und sieht zufrieden auf die Strandbürger ringsum, die seine patentierte Currywurst essen, und die holländischen Pommes mit der selbst gemachten Sauce, deren Rezept nur er kennt. Allerdings trinken die meisten heute keinen Champagner, sondern Erdbeerbowle. Wie gut, dass er damals doch auf seinen Sohn gehört hat!
Großstadtstressversehrte gehen kochen mit Tillmann Hahn
Der Imbiss an der Strandpromenade ist schon der zweite in Kühlungsborn, und seine Diplomingenieurs-Frau hat noch drei Schuhläden am Hafen.
Der Jachthafen! Der ist auch in Ost. Kinners, da legt nie einer an, prophezeiten die Skeptiker. Dabei hat man manchmal den Eindruck, ganz Kühlungsborn Ost und West wäre am Hafen, obwohl die Letzteren fast fünf Kilometer zurücklaufen müssen.
Gleich neben der Seebrücke liegt das „Travel Charme Hotel“, es war das erste Vier-Sterne-Haus am Ort und versteckt sich anders als die anderen nicht hinter dem Küstenwald. Direkter Meer- und Seebrücken-Blick – hat fast keiner sonst. Und das Morgen- und Abendbuffet des „Travel Charme“ durchmisst ganze Geschmacks-Kosmen. Je genussfähiger der Mensch, desto mäkliger wird er. Da fehlt noch was, denkt er oft. Hier eher nicht.
Und schräg gegenüber befindet sich „Tillmann Hahns Gasthaus“. Tillmann Hahn ist der Sternekoch, der während des G-8-Gipfels für die wichtigsten Mägen dieser Welt gekocht hat. Bei Hahn gibt es zu ausgewählter Küche ein ausgewähltes Live-Musikprogramm, aber auch „Kochen mit Tillmann Hahn“. Vier Stunden?
Vier Stunden kochen und essen? Wer – großstadtstressversehrt – noch überlegt, ob er lieber an die Ostsee fahren oder besser zum Psychotherapeuten gehen sollte, der wähle die erste Option und gehe kochen mit Tillmann Hahn. Allein zu sehen, wie dieser Mann eine Lachsforelle filetiert, kommt einer Art Tiefenentspannung gleich.
Und was ist in West? Eine Kunsthalle!
Das alles also ist in Ost. Und was ist in West? Keine Seebrücke, dafür eine große kaputte geschlossene Schwimmhalle mit großer kaputter geschlossener Schlossvilla. Sauna, Friseur und Café für den Meerwasserschwimmer? Geschichte. In stummer Nachbarschaft verrottet das ungleiche Paar. Das ist der Mittelpunkt von Kühlungsborn West. Die Gründe sind vielfältig, zu hohe Betriebskosten hier, Furcht vor nie erhobenen jüdischen Besitzansprüchen dort.
Aber da gibt es etwas im früheren Arendsee, das hat das frühere Brunshaupten nun doch nicht: eine Kunsthalle! In der einstigen Jugendstil-„Lesehalle“ von 1907 – Zutritt nur für Herren, gern mit Zigarre – hat sich gleich nach der Wende das „Amt für Wahrnehmungsstörungen“ etabliert. Der Leiter Franz N. Kröger gehört zu dem Typus Mensch, von dem man sagt, er sei bekannt wie ein bunter Hund. Dank solcher Mitbürger wie ihm hat die Küste den Herbst 1989 nicht verschlafen.
Dass fast alles eine Frage der Perspektive ist, erfuhr der Junge von der Insel Poel zum ersten Mal mit sieben Jahren, als die DDR sich weigerte, ihn einzuschulen. Dabei war der Inseljunge gar nicht besonders dumm, das Problem war bloß: Er verstand nur Plattdeutsch. Er hatte gewissermaßen eine andere linguistische Perspektive, Kunst aber ist die Feier der Perspektiven. Demnach ist Kunst eine Art Plattdeutsch für jedermann.
Ein Atelierhaus zeigt „entartete Kunst“
Im Mai veranstaltete die Kunsthalle ihre erste Plein-Air-Woche. Wer Lust und Mut hatte, zog mit einer gestempelten Leinwand oder nur einem weißen Blatt hinaus, malte, zeichnete, aquarellierte und gab das Ergebnis am Abend in der Kunsthalle ab. Ausstellung garantiert. Der Erfolg war bemerkenswert. Besonders beliebt: der Blick von der Kühlung über die blühenden Rapsfelder hinab auf den Ort und das Meer.
Die Kühlung ist jener Höhenzug an der Ostsee, von dem Kühlungsborn seinen Namen hat. Dort lebt in einem großen Haus die Künstlerin Anka Kröhnke zusammen mit den Bildern ihrer Großeltern, deren Eltern und der eigenen. Eine Künstlerfamilie über Generationen, also ein Jahrhundert Kunstgeschichte, wie es sonst kaum gezeigt werden kann. 2004 eröffneten sie ihr Atelierhaus, zweimal jährlich wechseln die Ausstellungen. In diesem Sommer zeigt sie Bilder ihres Vaters Walter Krönke, der mitten in der Nazi-Zeit suggestive, stark rhythmisierte Gegenwelten schuf, für die die Herrschenden nur einen Begriff hatten: „entartete Kunst“. Die Zeit der Kunst und die Zeit des Meeres. Der Einzelne ist nur ein Tropfen darin, und doch hat diese Wahrnehmung etwas Versöhnendes. Wie die des Meeres selbst.
Alles ist wieder da, nur ein wenig anders
Alle anderen überschauen können, definiert den Blick Gottes. Das schöne Haus mit den beiden deplatzierten Strandkörben in der Mitte zwischen Ost und West ist ein Upstaalsboom-Hotel. So heißt, in Kühlungsborn und anderer Küstennähe, der ostfriesische Beitrag zum gehobenen Beherbergungswesen. Von seinem Turm überschaut man die Bäume und Häuser von Kühlungsborn, die nicht in den Himmel wachsen. Außer dem Upstaalsboom natürlich, zumindest ein wenig. Es beruft sich auf seinen Vorgänger von 1907, das sich „Kurhaus“ nennen durfte, obwohl es nur ein Privathotel war: aber eben etwas größer, etwas höher, mit Ballsaal, Konzertgarten, eigenen Geschäften, Damen-, Herren-, Musik- und Lesezimmer und natürlich mit Turm. Das alles ist wieder da, nur ein wenig anders. Wer sonst würde es wagen, Nordseestrandkörbe an der Ostsee aufzustellen?
Reisetipps für Kühlungsborn
HINKOMMEN
Mit dem Auto geht es von Berlin aus über die A24 auf die A19. Vor Rostock wechselt man auf die A20 Richtung Bad Doberan. Die Fahrt dauert gute drei Stunden. Wer sich lieber fahren lässt, kann vom ZOB aus mit dem Flixbus in rund vier Stunden an die Küste kommen. Mit der Bahn reist man entweder über Rostock oder über Wismar und Bad Doberan. Für den letzten Streckenabschnitt kann man den wieder den Bus nehmen. Eine Alternative zum Bus ist die historische Dampflok "Molli", die stündlich zwischen Bad Doberan und Kühlungsborn verkehrt. Insgesamt ist man vier bis fünf Stunden unterwegs.
UNTERKOMMEN
Das „Travel Charme Hotel“ Kühlungsborn erinnert an den klassischen Bäderstil. Dank der Rundumglas-Lobby kann man hier auch an trüben Tagen am Meer sitzen. Bei der Suche nach Hotels und Pensionen hilft die telefonische Zimmervermittlung der Stadt unter 038293/84949.
RUMKOMMEN
Informationen zu aktuellen Veranstaltungen finden sich auf der offiziellen Webseite kuehlungsborn.de.