zum Hauptinhalt
Blick von oben auf den zentralen Platz von Putrajaya mit der Putra-Moschee und dem Amtssitz des Premierministers.
© Tourism Malaysia

Malaysia: Kuala Lumpurs kleine Schwestern

Zwei Städte vom Reißbrett – sie sollten Malaysia den Weg in die Zukunft ebnen. Funktioniert das? Ein Besuch in Putrajaya und Cyberjaya.

Raja Amanshah arbeitet nicht mehr, aber seine Tage folgen noch immer einer strengen Routine. Jeden Morgen, ausgenommen mittwochs, fährt der 58-jährige Rentner zur Putra-Moschee mit ihrer pinkfarbenen Kuppel und dem 116 Meter hohen Minarett. Dort hängt er sich sein „I love Islam“-Schlüsselbund um den Hals und stellt sich neben das Absperrband, das den Eingangsbereich vom Rest des Gebäudes trennt. Dann kommen die Touristen, meist Reisegruppen aus China, die sich rote Kutten mit Kapuze überwerfen müssen. Sind die Haare der Frauen oder die Knie der Männer nicht züchtig bedeckt, wird Amanshah auch mal laut.

Sonst ist er ein ausgesprochen freundlicher Mann. Mit sanfter Stimme erklärt er Besuchern die Architektur der Moschee – und seine Religion. Spricht man länger mit ihm, kann es passieren, dass er Prospekte herbeischafft, mit Titeln wie „Beseitigen Sie Ihre Zweifel über den Islam“. Oder dass er einem ein Buch voller medizinischer Diagramme zeigt. Die sollen beweisen: Fünfmal Beten am Tag hilft gegen Wut, ist gut für den Rücken, beseitigt Potenzprobleme.

Mehrere Jahre ist er schon Freiwilliger, täglich acht Stunden lang, ohne Bezahlung. „Wissen weiterzugeben ist das Edelste, was ein Muslim tun kann“, sagt er. Erst vergangene Woche hat Amanshah wieder jemanden missioniert, einen 19-Jährigen aus Schanghai.

Und dann ist sein Arbeitsplatz natürlich auch etwas Besonderes. Die Putra-Moschee, die Platz bietet für 15 000 Gläubige, liegt gleich neben dem Amtssitz des Premierministers, im Herzen von Malaysias neuer Verwaltungskapitale und Vorzeigestadt Putrajaya. „Beim Freitagsgebet sitzt der Premier dort hinten“, sagt Raja Amanshah, deutet auf den Teppichboden nahe der Kanzel des Predigers und lächelt triumphierend: „Ich bin immer in der Reihe hinter ihm. Wenn er aufstehen will, reicht er mir seine Hand.“ Mit dem Auto braucht Amanshah keine 15 Minuten von zu Hause bis nach Putrajaya, aber wenn er es sich leisten könnte, er würde hier leben: „Das ist Malaysias Beverly Hills.“

Ein seltsamer Vergleich. Passender wäre Brasilia. Denn Putrajaya wurde Anfang der 90er Jahre am Reißbrett entworfen. Eine perfekte Stadt sollte es werden. Grün, großzügig, nachhaltig und durchdacht. Ganz anders als der 25 Kilometer nördlich gelegene Moloch Kuala Lumpur, den die Regierung 2005 endgültig verließ.

Der Bau Putrajayas kostete Milliarden Euro. Erst mussten die Ölpalmen einer riesigen Plantage abgeholzt werden, dann legte man künstliche Seen an und überzog das Gelände, das etwas kleiner ist als der Bezirk Berlin-Mitte, mit einem Netz aus Straßen und Brücken.

Die zentrale Achse Persiaran Perdana ist mehr als vier Kilometer lang und hat in jeder Richtung drei Fahrspuren, dazwischen verläuft teilweise ein breiter Fußgängerstreifen. Entlang des monumentalen Boulevards sind Regierungsbauten und Bürotürme aneinandergereiht. Endpunkt im Norden ist der Putra-Platz mit dem Sitz des Premiers: Die zwiebelförmige Kuppel des sechsstöckigen Gebäudes, das im Stil der islamischen Mogul-Architektur gehalten ist, sieht man schon von Weitem in der Sonne blitzen. Endpunkt im Süden: das internationale Kongresszentrum, das einem Ufo gleicht.

Putrajaya ist Teil eines größeren Plans – erdacht von Mahathir Mohamad, dem einflussreichsten Regierungschef seit der Unabhängigkeit des Landes von Großbritannien 1957. Er war von 1981 bis 2003 Premier. In dieser Zeit erlebte Malaysia, gesegnet nicht nur mit Palm-, sondern auch mit Erdöl, einen starken wirtschaftlichen Aufschwung. Als Produktionsstätte für ausländische Elektronikkonzerne schaffte man es vom Entwicklungs- zum Schwellenland, warb beim ärmeren Nachbarn Indonesien bald ein Millionenheer von Gastarbeitern an.

Ex-Premier Mahathir hatte ein Faible für Megaprojekte

Mahathir regierte autoritär, gab sich als Mann starker Worte: kapitalistisch, aber antiwestlich, bisweilen sogar antisemitisch. Sein erklärtes Ziel war es, Malaysia Respekt zu verschaffen. Und der eigenen Volksgruppe, den Malaien, Aufstiegswillen und Stolz einzuimpfen. Die muslimischen Malaien stellen zwar 60 Prozent der Bevölkerung, die ökonomische Macht liegt jedoch bei der chinesischen (23 Prozent) und indischen Minderheit. Megaprojekte wie die Zwillingstürme von Kuala Lumpur, errichtet mit Geld des staatlichen Erdölkonzerns Petronas, oder die Formel-1-Strecke sollten zeigen, dass Malaysia islamisch, modern und erfolgreich zugleich ist. Dass es bald zu den hochentwickelten Nationen zählen will.

Auch Putrajaya gehört in die Reihe dieser bombastischen Bauten. „Jaya“ bedeutet siegreich, „Putra“ ist eine Reminiszenz an den ersten malaysischen Premier gleichen Namens, kann aber auch die Malaien als Volksgruppe meinen. Parallel zur Verwaltungskapitale entstand in unmittelbarer Nachbarschaft die Stadt Cyberjaya, nach Mahathirs Willen ein neues Silicon Valley.

Putra- und Cyberjaya sollten Symbole sein für Malaysias Aufbruch ins 21. Jahrhundert. Was ist davon geblieben?

20 Minuten dauert die Zugfahrt von Kuala Lumpur zu den Schwesterstädten. Vom Bahnhof sind es dann jeweils nochmal ein paar Minuten mit dem Taxi oder Bus. Wenn man heute durch Putrajaya spaziert, fällt vor allem eines auf: die Leere. Selbst auf den breiten Bürgersteigen des Prachtboulevards Persiaran Perdana, der ein wenig an die Karl-Marx-Allee erinnert, sieht man kaum Fußgänger. Das mag an den großen Distanzen liegen, oder an der tropischen Hitze. Aber auch der Autoverkehr hält sich in Grenzen. Das halbmondförmige Hochhaus, in dem das Finanzministerium residiert, oder der Justizpalast, der dem Taj Mahal ähnelt, stehen da wie Kulissen. Läden sind eine Seltenheit. Viele der hübschen Einfamilienhäuser, nicht weit vom Wasser entfernt, wirken verwaist. Auch in den großen Apartmentblöcken gibt es wohl leere Wohnungen.

Eines Tages soll Putrajaya mehr als 300 000 Einwohner haben, derzeit sind es gut 70 000, fast alle Staatsbedienstete. Fragt man sie nach ihrer Meinung, hört man oft das Gleiche: Die vielen Parks in Putrajaya seien toll, doch es fehlten Nachtleben und Garküchen wie in Kuala Lumpur. Die zweite Shopping Mall wird sehnsüchtig erwartet.

Lebendig wirkt die Stadt nur am Rund des Putra-Platzes, wo die Busse der Reisegruppen halten. Von hier schwärmen die Touristen aus zu einer Bootsfahrt – oder eben zum Besuch der Putra-Moschee, wo sie dann auf Raja Amanshah treffen. Zumindest bei ihm ist Mahathirs Plan aufgegangen. Amanshah ist stolz. „Alle Ministerien sind in Putrajaya, das ist praktisch, wenn Sie was bei den Behörden zu erledigen haben“, sagt er und schwärmt von seiner Moschee. Deren Eingang sei eine Kopie aus dem persischen Isfahan, andere Elemente stammten aus dem Irak und Ägypten. „Wir haben das Beste von überall hierher gebracht!“

Genau dieser Eklektizismus stört Amir Hamzah Abdul Rahman. „Putrajaya ist zu sehr eine Mischung aus Elementen anderer Länder, besonders des Mittleren Ostens, und vergangener Zeiten“, sagt der Architekt. Rahman arbeitet für Hijjas Kasturi, eines der renommiertesten Architekturbüros des Landes. Er steht hinter seinem Schreibtisch in einem Hochhaus in Kuala Lumpur und blickt durch die Fensterfront hinaus in die Dämmerung, auf einen Wolkenkratzer, der abgerissen wird. „Das passiert derzeit überall in KL“, sagt er. „Alte Gebäude werden durch neue ersetzt.“ Und freie Flächen verschwinden. Die pulsierende Hauptstadt mit ihren acht Millionen Einwohnern in der Metropolregion platzt aus allen Nähten, die Straßen sind chronisch verstopft. Rahman hält es deshalb immer noch für eine gute Idee, dass der Regierungssitz verlegt wurde. Er selbst war an einem Masterplan für Putrajaya beteiligt und ist relativ optimistisch, was die Zukunft der Stadt angeht. Malaysia wachse ja noch. „Den neuen internationalen Flughafen KLIA haben die Leute auch als überdimensioniert kritisiert, doch er hat sich als Erfolg erwiesen.“ Das Flughafengebäude besitzt in seiner Mitte einen Glaszylinder, in dem Regenwaldpflanzen wachsen, entworfen hat es der legendäre japanische Architekt Kisho Kurokawa. Wie den KLIA, so muss man auch die Petronas-Zwillingstürme zu den gelungenen Mahathirschen Großprojekten zählen. Sie sind zu Ikonen geworden, beliebt bei Malaysiern und Touristen.

Wie es in Cyberjaya aussieht

Amir Hamzah Abdul Rahmans Büro ist bekannt für avantgardistische Bauten, die dennoch Bezug nehmen auf lokale Traditionen. Seine radikale Vision für Kuala Lumpur: Gebäude, die wie alte malaysische Holzhäuser auf Stelzen stehen – statt eines Erdgeschosses gäbe es eine Grünfläche. Das Kongresszentrum von Putrajaya, das er und seine Kollegen entworfen haben, gehört denn auch zu den interessantesten Gebäuden der Planstadt. Die meisten anderen Bauten dort findet der Architekt weder besonders innovativ noch malaysisch. „Das ist natürlich Geschmackssache“, fügt der bedächtige Rahman hinzu.

Manche verspotten Putrajaya als „Disneyland“ oder „Traum aus 1001 Nacht“. Die orientalischen Anleihen zeigen vielleicht, dass das multi-ethnische Malaysia noch keine eigene Identität gefunden hat. Oder dass ihm eine bestimmte Identität verordnet werden soll. Putrajaya besitzt zwei riesige Moscheen, aber keinen buddhistischen, taoistischen oder hinduistischen Tempel. Das irritiert – auch wenn die Staatsbediensteten fast ausschließlich Malaien sind, da es Chinesen und Inder eher in die Wirtschaft zieht.

Drüben in Cyberjaya spielen ethnische und religiöse Konflikte dagegen kaum eine Rolle. Sonst werden Malaien bei der Vergabe von Studienplätzen und Aufträgen bevorzugt, „wir aber waren schon immer farbenblind“, sagt Vijay Tharumartnam, selbst indischer Abstammung. Tharumartnam arbeitet bei der „Multimedia Development Corporation”, einer Agentur, die dem Finanzministerium untersteht. Sie hat den Aufbau von Cyberjaya koordiniert – und den des ganzen „Multimedia Super Corridor“ drumherum, einer Sonderwirtschaftszone, die von den Zwillingstürmen bis zum KLIA 70 Kilometer südlich reicht, Putrajaya eingeschlossen. Auch Cyberjaya wurde auf dem Boden einer ehemaligen Plantage errichtet, orientalische Schlösser allerdings gibt es hier keine. Sondern moderne Zweckbauten. Passend dazu tragen die Straßen Namen wie „Jalan Teknologi“.

Stadt und Korridor sollten internationale IT-Firmen ins Land locken, mit dem Versprechen perfekter technischer Infrastruktur und niedriger Steuern. Der Traum: eine Kreativhochburg von Rang.

Doch die Gründung fiel zusammen mit der Asienkrise 1997 und dem Platzen der Dotcom-Blase. „Lange war von einer Geisterstadt die Rede, in der man nicht mal einen Kaffee trinken konnte, geschweige denn eine Idee entwickeln“, sagt Tharumartnam. Seit vier, fünf Jahren geht es nun stetig bergauf. Es gibt eine neue Autobahnverbindung nach Kuala Lumpur, Firmen wie Panasonic, Dell, HP, BMW haben investiert, Restaurants haben aufgemacht. Überall stehen Kräne, Wohnungen werden hochgezogen. Vielleicht wird aus Cyberjaya noch mal so was wie eine echte Stadt.

Derzeit gibt es 23 000 Studenten, 730 Firmen, 31 000 Wissensarbeiter. Das Logistikunternehmen DHL, Tochter der Deutschen Post, betreibt in Cyberjaya eines von weltweit zwei großen IT-Zentren. Der Chef vor Ort ist voll des Lobes über die Bedingungen in der Stadt. 1100 Menschen arbeiten in dem Gebäude, das aus zwei Flügeln besteht. Auf den gut gekühlten Servern im ersten Stock finden sich Daten von Kunden aus allen Kontinenten. Und das vielsprachige Callcenter hilft DHL-Mitarbeitern 24 Stunden bei Computerproblemen. Auf Englisch, Chinesisch, Spanisch, Japanisch, Deutsch...

Zwar hat Cyberjaya junge Talente im Animationsfilm hervorgebracht, zu einem dynamischen Zentrum für Forschung und Entwicklung ist es jedoch nicht geworden. Dafür bräuchte Malaysia wohl, was sich nicht aus dem Boden stampfen lässt wie eine Retortenstadt: mehr exzellent ausgebildete Studenten, mehr wagemutige Unternehmer, eine klügere, langfristig angelegte Industriepolitik, die auf Marktnischen zielt, vielleicht auch mehr Liberalität.

Vijay Tharumartnam aber ist glücklich über die jüngsten Erfolge, und er sagt: „Der Begriff ,Silicon Valley’ damals war falsch, die Erwartungen waren zu hoch.“ In Cyberjaya sind sie bescheidener geworden. Nach der Überdosis Zukunft in der Vergangenheit probieren sie es jetzt mit ein wenig mehr Gegenwart.

Zur Startseite